Aufräumen mit einem Nazi-Mythos

09.09.2009
Knapp 80 Jahre hat es gebraucht, bis endlich unparteiisch klares Licht in den "Fall Horst Wessel" kommt. Eine Voraussetzung dafür war der Zugang zu den bis 1989 eingemauerten Archivschätzen. Denn zu diesem Fall gehört nicht nur die hocheffektive Nazipropaganda, die Wessel zum Helden und Märtyrer hochgejazzt hat; auch die Gegenseite hatte aktiven Anteil an der Mythenbildung.
Die zweite Voraussetzung war, dass jemand aus einer neuen post-war generation - nach dem Kalten Krieg - zu graben anfing und atemberaubende Spuren auch in beiden anderen Nachkriegsgeschichten gefunden hat.

Wer je vom Nazistaat gehört hat, kennt den Namen Horst Wessel. Den einen fällt das von ihm getextete, nach ihm benannte SA-Kampflied ein. Andere haben Bilder von notorischer Randale zwischen "Rechten" und "Linken" im Hinterkopf, die Ende der 20er Jahre auf Berliner Straßen öfter mal tödlich ausging. Manche vermuten, es sei in Wahrheit um eine politisch verbrämte Abrechnung zwischen zwei Zuhältern gegangen und Wessel sei gestorben, weil er Hilfe von einem jüdischen Arzt ablehnte. Oder war es ein ausgearteter Mietstreit?

Wessel wurde am späten Abend des 14. Januar 1930 durch einen Nahschuss in den Mund so schwer verletzt, dass er 40 Tage später starb. Der Pastorensohn, bildungsbürgerlich sozialisiert, war ein radikaler SA-Führer, schon in Goebbels' Visier, womöglich einer für die künftige Nazi-Funktionselite.

Der Schütze war Albrecht Höhler, auch er führte eine Sturmabteilung - so nannte sich der verbotene Rotfrontkämpferbund -, aber ihn protegierte allenfalls das "Milieu" rund um den Alexanderplatz, in dem Lumpenproletariat, Ringvereine und Polit-Militanz ineinander verfranst waren; ein Berufskrimineller, auch Zuhälter. Animiert von der Vermieterin, die Wessel raus haben wollte, war Höhler mit einem Trupp in der Wohnung aufgekreuzt, um ihm "eine proletarische Abreibung" zu verpassen.

Wie es dazu kam, was wirklich am Tatort geschah und was danach, hat der junge Historiker Daniel Siemens drei Jahre lang recherchiert, wissenschaftlich akribisch und leidenschaftlich wie ein Detective der Abteilung für Lost Cases. Er fand ein politisches Selbstporträt von Wessel selbst und die Akten des Strafprozesses von 1930, die den Nazi-Schauprozess von 1934 als das erweisen, was er war: Justizmord.

Er stieß auf Else Cohn, die einzige Frau in Höhlers "Abreibungstrupp", die Heinz Knobloch bei seinen Recherchen zu "Der arme Epstein" noch nicht finden konnte. Sie, Höhler und andere wurden kurz danach von Nazis ermordet, die Täter nie zur Rechenschaft gezogen.

Detektivarbeit ist nicht die einzige Stärke des Buchs: Siemens kann erzählen, kann Zeitgeist und Mentalität jener Generation greifbar machen, in der die erste deutsche Demokratie von innen verblutet: durch "Hooligans avant la lettre" an beiden Rändern, für die Gewalt die wahre "sinnstiftende Praxis" ist. Allein wie er das Klima aus Straßenschlachten und Krisenstimmung lebendig werden lässt, hat hochaktuellen "Mehrwert".

Außerdem hat Daniel Siemens dafür gesorgt, dass seine Recherchen praktische Konsequenzen haben: Auf seine Initiative hob im Februar 2009 die Berliner Staatsanwaltschaft endlich das Schauprozess-Urteil von 1934 auf, das unter anderem Knoblochs armen Sally Epstein den Kopf gekostet hat.

Besprochen von Pieke Biermann

Daniel Siemens: Horst Wessel - Tod und Verklärung eines Nationalsozialisten
Siedler Verlag, München 2009
352 Seiten mit Abbildungen, 19,95 EUR
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