Auferstehung des Verräters

Von Christoph Leibold · 19.12.2012
Wer handelt, läuft unweigerlich Gefahr, sich schuldig zu machen. So lässt sich die Botschaft der Inszenierung von Johan Simons an den Münchner Kammerspielen zusammenfassen. Judas, gespielt von Steven Scharf, hockt nackt auf einer Leiter und erklärt seinen Verrat an Jesus.
Seine Name ist zum Synonym für Verrat geworden. Daran kann und will auch Judas selbst nichts ändern - jedenfalls der Judas nicht, dem die niederländische Dramatikerin Lot Vekemans eine Wiederauferstehung geschenkt hat, oder wenigsten ein 60-Minuten-knappes Bühnenleben in ihrem nach ihm benannten Einpersonen-Theaterstück. Johan Simons, Intendant der Kammerspiele, hat "Judas" nun an seinem Haus zur deutschsprachigen Erstaufführung gebracht.

Judas Monolog ist keine Verteidigungsrede. Er sucht nicht die Entlastung durch den Hinweis, dass es einen Sündenbock wie ihn brauchte, damit Jesus überhaupt erst zum Lamm Gottes werden konnte. Judas will sich nicht ent-schuldigen, also ganz wortwörtlich seiner Schuld entledigen. Sich erklären, das ja, aber im Wissen um sein unverzeihliches Vergehen. Allerdings auch in dem Bewusstsein, dass Unschuld nahezu unmöglich ist. Denn wer handelt, läuft unweigerlich Gefahr, sich schuldig zu machen.

Judas, so sieht das jedenfalls Lot Vekemans Stück vor, wendet sich unmittelbar an die Zuschauer. Johan Simons aber hat sich in seiner Inszenierung gegen die direkte Publikumsansprache entschieden. Eine Leiter lehnt am geschlossenen eisernen Vorhang der Kammerspielbühne, gut und gerne vier Meter hoch, und ganz oben hockt Steven Scharf als Judas, nur in mattem Kerzenschein, später in schummerigem Scheinwerferlicht. Richtig hell wird es nie. Scharf kauert dort oben, mit dem Rücken zum Publikum und gänzlich unbekleidet.

Die seelische Entblößung von Judas in Vekemans Text ist so übersetzt in die schutzlose Nacktheit des Körpers. Und Steven Scharf zeigt keinen Seelenstriptease nach den Regeln des psychologischen Realismus; Vekemans in freie Verse gefasste, leicht rhythmisierte Alltagssprache wird ebenfalls transformiert: in eine emphatische Rede. Ein Zittern, ja beinahe eine Tremolo liegt in Scharfs Stimme, das seinem Vortrag Druck und Dringlichkeit verleiht. Ein nachdrückliches Sprechen, aber: ohne jede Natürlichkeit.

Der artifizielle Ton, dazu die künstliche Spielsituation oben auf der Leiter - beides zusammen stärkt den Kunstanspruch dieser Inszenierung eines nicht übermäßig kunstvoll geschriebenen Monologs und verleiht dem Abend zudem archaische Kraft. Schwächt aber den argumentativen Charakter des Stücks. In der Textvorlage sucht Judas den Kontakt zum Publikum, verstrickt es in seine Überlegungen, bis deutlich wird: Wir alle könnten dieser Judas sein. Sein Schicksal ist auch unsere Tragödie. In Johan Simons Lesart an den Münchner Kammerspielen dagegen können wir uns zwar in Judas erkennen, wenn wir wollen - es bleibt aber zuvorderst seine Tragödie. Das ist weniger didaktisch, weniger aufdringlich als es Lot Vekemans Stück vorsieht, stößt das Publikum aber auch nicht so stark auf das eigene Dilemma: dass wir alle handelnd schuldig werden.

Münchner Kammerspiele: "Judas"