Aufbruch ins Kunststoffzeitalter

Von Irene Meichsner · 05.02.2009
Eigentlich sollte Leo Hendrik Baekeland Schumacher werden - so wie sein Vater. Doch der Junge war dafür viel zu wissbegierig. Ihn lockte der Duft der großen weiten Welt - und er machte als Chemiker eine märchenhafte Karriere. Baekeland erfand mit dem Bakelit den ersten vollsynthetischen Kunststoff. Vor hundert Jahren stellte er das Bakelit in New York erstmals der Öffentlichkeit vor.
Im "Club der Chemiker" an der 55. Straße in New York trafen sich die Mitglieder der "Amerikanischen Chemischen Gesellschaft" in regelmäßigen Abständen, um Erfahrungen auszutauschen. Am 5. Februar 1909 hielt der amtierende Club-Präsident einen Vortrag. Er hieß Leo Hendrik Baekeland, ein geborener Flame, der nach Amerika gegangen war, um dort sein Glück zu machen.

Baekeland sprach über ein neues, fantastisches Material: den ersten voll synthetischen Kunststoff, dem er gleich seinen eigenen Namen gegeben hatte: Bakelit.

"Sein praktischer Nutzen wird bereits für mehr als vierzig verschiedene Industriezweige untersucht. Die Ergebnisse sind ausgezeichnet. In der Elektrizität kann man Bakelit zum Beispiel für Isolatoren und Dynamos verwenden, in der Mechanik für Kugellager, in Fabriken zur Herstellung von Billardkugeln, Tabakpfeifen und Knöpfen."

Die Kollegen staunten. Baekeland hatte Proben mitgebracht: Das Material war leicht, elektrisch isolierend, dabei säure- und hitzefest. Ein Patent hatte sich der geniale Erfinder und erfolgreiche Geschäftsmann schon gesichert.

Als Sohn eines Schusters und eines Dienstmädchens kam Leo Hendrik Baekeland am 14. November 1863 in Gent zur Welt. Er studierte Naturwissenschaften, speziell Chemie. Mit 21 Jahren war er promoviert. 1889 ging er nach Amerika. Er sagte später:

"Wirklich intensiv gebildet wurde ich erst, als ich mit den großen Problemen des praktischen Lebens konfrontiert wurde. Diese Ausbildung erhielt ich in der Hauptsache in den Vereinigten Staaten."

Mit 30 Jahren machte sich Baekeland in Yonkers bei New York selbständig. Von Anfang an war seine Maxime:

"Mach deine Dummheiten im kleinen, deine Geschäfte im großen Stil."

Baekeland erfand ein neues Fotopapier, das künstlich belichtet werden konnte. Das Patent verkaufte er 1899 für 750.000 Dollar an die Eastman Kodak Company.

"Ich war ein freier Mann, der tun und lassen konnte, was er wollte. Damit begann die glücklichste Zeit meines Lebens. In einem Gebäude, das zu meinem Wohnhaus in Yonkers gehörte, richtete ich mir ein bescheidenes, aber angemessen ausgestattetes Laboratorium ein. Dort genoss ich mehrere Jahre lang den Luxus, meiner Lieblingsbeschäftigung nachgehen zu können, ohne dabei unterbrochen zu werden."

Baekeland dachte an einen voll synthetischen Kunststoff. Er sollte den teuren Schellack ablösen, der aus Sekreten der indischen Lackschildlaus hergestellt wurde. Für ein Kilogramm Schellack brauchte man rund 300.000 Schildläuse.

Baekeland experimentierte mit Phenol und Formaldehyd; andere Chemiker waren damit gescheitert. Er fügte Ätznatron und ähnliche basische Stoffe als Katalysatoren hinzu. Das zähflüssige Rohmaterial stabilisierte er mit Füllstoffen wie Asbest, Sägemehl oder Textilfasern. Mit hydraulischen Pressen ließ sich dieses Material formen. Am Ende wurde es unter hohem Druck ausgehärtet. Baekeland entwickelte dafür einen speziellen Apparat: den sogenannten Bakelizer, einen mit Dampf geheizten, luftdicht verschließbaren Kessel.

1910 ging Baekeland mit dem Bakelit auf den Markt: der Beginn des Kunststoffzeitalters - eine ähnlich epochale Zäsur wie der Schritt von der Stein- zur Bronze- oder von der Bronze- zur Eisenzeit. Nicht nur Steckdosen und Lichtschalter wurden aus Bakelit hergestellt, sondern alle möglichen Gebrauchsgegenstände: von Schüsseln über Aschenbecher, Klemmlampen, Büromaterialien und Radios bis hin zum Klassiker: dem schwarzen Bakelit-Telefon.

Viele Dinge wurden für die breite Masse durch das billige und robuste Material überhaupt erst erschwinglich. Seit Mitte der zwanziger Jahre setzten sich auch führende Designer mit dem neuen Werkstoff auseinander. Im Art Déco entwickelten Konsumgüter aus Bakelit ihren eigenen Stil.

Der einzige Nachteil: Bakelit ließ sich nur in relativ dunklen Farbtönen herstellen - schwarz, braun, rotbraun oder dunkelgrün. Seit Ende der 30er Jahre machten ihm neue Kunststoffe in hellen und grellen Farben Konkurrenz.

Allmählich verblasste der Glanz des Bakelit. Am längsten hielt es sich noch hinter dem Eisernen Vorhang, in Osteuropa. Die Karosserie des "Trabi" bestand im Wesentlichen aus einem bakelitähnlichen Kunststoff. Im Verborgenen lebt der legendäre Werkstoff weiter: Auch heute noch werden Isolatoren, Schalter und Stecker aus Bakelit hergestellt.