Auf der Suche nach Hindernissen

Von Blanka Weber · 15.08.2013
"Erlebbar für alle", so heißt ein Städteführer, der ab Herbst für Thüringen erscheinen soll. Es geht um barrierefreies Reisen. Wir haben einen jungen Mann im Rollstuhl begleitet, der derzeit als "Erheber" unterwegs ist - und die Stadt Erfurt aus seinem Blickwinkel betrachtet, Daten erhebt und vor allem Stolperkanten vermessen will.
"Wenn ich allein unterwegs bin, hebe ich mir den Rollstuhl auf den Beifahrersitz `rüber, mach` vorher die Räder ab, wenn ich Begleitung habe oder meine Frau mitfährt, dann kommt der Rollstuhl in den Kofferraum."

René Strohbach blickt auf die Straße, konzentriert sich hinterm Lenkrad. Sein Wagen hat Automatikschaltung. Gerne fährt er nicht.

"Man muss. Da man sich ja auf die öffentlichen Verkehrsmittel nicht ganz so verlassen kann."
Zumindest nicht, wenn es keine Einstiegshilfe gibt. Oder der Straßenbahnfahrer schlicht übersieht, das jemand im Rollstuhl wartet. Also fährt René Strohbach, wenn es geht, mit dem Auto in die Innenstadt.

Einen wirklich rollstuhlgerechten Parkplatz zu finden ist schwer
Da ist es schon, das Problem Nummer zwei: Die Suche nach dem extra breiten Parkplatz, damit er den Rollstuhl direkt neben der Fahrertüre platzieren und umsteigen kann. Es hat geklappt. Trotzdem stehen jetzt dem sportlichen 34-Jährigen die ersten Schweißperlen auf der Stirn:

"Ja, es ist ein ausgewiesener Behindertenparkplatz, aber der Untergrund ist sehr schwer zu berollen, also ist wirklich mit Anstrengungen verbunden."

Das heißt: Seine Räder schwanken in den Erdrillen zwischen den Pflastersteinen hin und her und so holpert er mit viel Muskelkraft weiter und bleibt trotzdem ungewöhnlich gelassen dabei. Seit 13 Jahren sitzt er im Rollstuhl, nur ein Bein kann er teilweise bewegen. Seit einer Operation am Rücken hat sich für den Restaurantfachmann von heute auf morgen das Leben geändert. Es hätte alles noch noch schlimmer kommen können, sagt er in einer ruhigen Minute.

Er greift in die Räder seines sportlichen Rollstuhl-Modells ohne Rückenlehne und fährt weiter. Er ist unterwegs, um für andere Menschen mit Behinderungen das Reisen zu testen. Auch quer in Innenstädten bei 30 Grad im Schatten, Staub und Krach:

"Ja, die Baustelle ist jetzt auch jedes Mal anders."

Zum Glück nimmt er alles mit Humor, rollt über Rampen, schwungvoll über Steine, auf seinen Knien liegt ein Stapel Papier. Es sind die Erhebungsbögen für Neigungswinkel, Treppenhöhen, kurz: Für den Test der Barrierefreiheit in der Stadt. Eine Assistentin der Tourismusgesellschaft läuft neben ihm, hat Zollstock, Maßstab und Wasserwaage im Gepäck.

"Letztes Mal bin ich noch hier `rüber gekommen."

Dieses Mal geht's nicht. Auch Annemarie Hartung, die Assistentin, schnauft durch, zu Fuß wäre es kein Problem, mit Rollstuhl geht's nicht. Also wird der Umweg sportlich gesehen:

Annemarie: "Ja, so viele Steigungen gibt es jetzt zwar nicht. Aber manchmal sind schon viele dabei. Ups."

Die Wasserwaage poltert aus der Tasche. Schon wieder eine Stufe, diesmal vor dem Rathaus. Annemarie blickt auf den Zollstock:

"So, dann muss das hier ausgeglichen werden und dann die Zentimeter bis vorne an der Wasserwaage abgelesen werden, das sind dann 6 Zentimeter, das entspricht 6% Steigung."

Ohne Rampe nicht machbar, sagt René aus seinem Rollstuhl gebeugt, macht eine knappe Notiz und rollt weiter vorbei an der Baustelle zur Kunstgalerie gegenüber. Auch dort: Ernüchterung. Statt einer Stufe liegen pink markierte Euro-Paletten vor der Eingangstür. Für Rollstühle leider zu hoch.
"Und es wurde gesagt, nach der Baumaßnahme, dass hier noch eine Zuwegung barrierefrei entstehen soll."

Auch das will er später überprüfen. Momentan kann er nicht hinein, auch, weil sich das Personal beim Nachfragen nicht zu helfen weiß. Etwas rat- und hilflos rollte René Strohbach mit seinen Erhebungsbögen auf den Knien also weiter in eine kleine Gasse, dort soll irgendwo ein Restaurant sein. Für einen Moment hält er inne:

"Die schönsten Erlebnisse sind für mich eigentlich immer wieder, wenn Leute offen auf einen zugehen, jetzt nicht in Anführungsstrichen als der Behinderte betrachtet, das man als normaler Mensch wahrgenommen wird, der vielleicht irgendwo seine Einschränkungen hat, und man wie gesagt versucht, durch Nettigkeit, individuelle Lösungen Barrieren aus dem Weg zu räumen."

Das Schwimmbad schneidet in Renés Test positiv ab
Und wieder holt die Assistentin Wasserwaage und Zollstock aus der Tasche. Unendlich viele Daten hat sie schon ermittelt - über barrierefreie Hotelzimmer, Fahrstühle, zu schmale Eingangstüren und - eben - Altstadtgassen.

Annemarie: "Ich denke das wird in Zukunft des demografischen Wandels noch weiter ausgebaut, also dass es da zukünftig mehr barrierefreien Wohnraum und auch in Hotels mehr darauf geachtet wird."

Noch ein Termin an diesem Tag, dann ist Feierabend. Wieder geht es per Auto durch die Innenstadt, diesmal in ein Schwimmbad. René hebt sich schwungvoll vom Fahrersitz, legt einen neuen Stapel Papier auf die Knie und rollt den Weg leicht hinab, diesmal einen Bademeister und wieder Annemarie, die Assistentin, neben sich.

Noch eine Station, ein Blick in Umkleidekabine und Toilette für Behinderte, der Check, ob die Haltegriffe die richtige Höhe und die Türen die richtige Breite haben und wie der Zugang zum Wasser ist Er hebt den Daumen, alles prima, nur ein paar kleine Dinge merkt er an.

Was ihn freut, sagt er, dass sich jetzt mehr tut für Menschen mit Behinderung. Barrierefreiheit sei immer die Suche nach einem Kompromiss. Er lächelt und sortiert die Erhebungsbögen. Für heute genug, auch wenn es noch unendlich viel zu tun gibt.
Mehr zum Thema