Auf der Suche nach Heimat

29.03.2012
Der neue Roman des österreichischen Autors ist die Geschichte eines nach Israel ausgewanderten russischen Juden. In einem wunderbar sarkastischen Tonfall schildert Vertlib die Unruhe eines Helden, der mit den Härten von Exil und Heimatlosigkeit kämpft.
"Eigentlich sind wir kein Volk. Wir sind ein Völkchen. Zerstreut wie eine Prise Kokain, die ein Windstoß vom Tisch eines unbedachten Koksers geweht hat", sagt der titelstiftende Schimon, ein nach Israel ausgewanderter russischer Jude und gibt damit Ton und Thema des Romans vor: Es geht um Exil und Heimatlosigkeit, und das in einem wunderbar sarkastischen Tonfall.
Schimon ist knapp 80, als ihn die halb so alte Hauptfigur des Romans, ein österreichischer Schriftsteller, in der Nähe von Tel Aviv aufsucht. Der Gast aus Wien befindet sich auf Lesereise in dem Land, in das er als Kind mit seinen Eltern, gleichfalls aus Leningrad kommend, emigriert war, bevor die Familie nach vielen Zwischenstationen in Österreich landete. Warum zwischen Schimon und seinem verstorbenen Vater, die einst in der Sowjetunion als beste Freunde eine zionistische Untergrundzelle gegründet hatten, jahrzehntelang Funkstille herrschte, das will er herausfinden. Die Suche danach liefert die Rahmenhandlung, eigentlich aber steht das Leben des schriftstellernden Ich-Erzählers im Zentrum.

Dieser Ich-Erzähler stellt seinen neuen, noch unvollendeten Roman vor, der von seiner Kindheit in Israel handelt, von der Enttäuschung, die das "gelobte Land" in Wirklichkeit bedeutete, von der Odyssee, die die Familie teilweise ohne gültige Papiere durch viele Länder führte, über die Abschiebehaft in den USA bis er in Wien zu seiner Rolle als mustergültiger BWL-Student fand, der perfekt den sympathischen Ausländer spielte, den Zuwanderer, den alle lobten, weil er sauberer war und besser Deutsch sprach als die türkischen Gastarbeiter, ein Fremder, der nicht auffiel und dankbar lächelte, wenn man mit ihm zufrieden war.

Zwischen diesen Passagen, aus denen der Erzähler seinem Publikum vorliest, beantwortet er Fragen danach, ob er an Gott glaube, mit "Glaubt ER an mich?", er besucht Verwandte in Akko, lässt sich von ihnen und ihren arabischen Freunden den Palästinenserkonflikt erklären und räsoniert auf einer nächtlichen Dachterrasse in der Jerusalemer Altstadt über orthodoxe Fundamentalisten, die sich dem Militärdienst entziehen. Aus dieser Parallelschaltung von Vergangenheit und Gegenwart gewinnt der Roman seinen Reiz, zumal Vertlib immer wieder Anlässe findet, um den Erzähler seine Erinnerungen fortspinnen oder konkretisieren zu lassen, was dem Roman im Roman dramatischen Schwung verleiht.

Wie schon in zweien seiner vier Vorgängerromane sind die autobiographischen Bezüge in "Schimons Schweigen" unübersehbar. Genau wie sein namenloser Held hat auch der 1966 in Leningrad geborene Vladimir Vertlib zahllose Ortswechsel hinter sich bis hin zum Wirtschaftsstudium im offen antisemitischen Waldheim-Österreich in den 80er Jahren. Mag sein, dass sich diese Passagen im Reportagestil deshalb wenig inspiriert lesen, weil der Autor an anderer Stelle schon alles dazu gesagt hat.

Manches rückt nahe ans Klischee. Wenn eine Vermieterin sämtliche Vorurteile gegen Ausländer herbetet, ein Immobilienmakler erpresserisch betrügt und der dazwischen zerriebene Ich-Erzähler mit Clausewitz von einer verlorenen Schlacht spricht, vermisst man den literarischen Mehrwert. Boshaft ironisch bis anrührend hingegen funkelt der Blick auf den "ewigen Juden im Hamsterrad", auf die wechselnden Fronten zwischen Freund und Feind im Israel von heute und auf die Frage, was Heimat bedeute: "Die Selbstverständlichkeit, bestimmte Dinge nicht erklären zu müssen."

Besprochen von Edelgard Abenstein

Vladimir Vertlib: Schimons Schweigen
Deuticke Verlag, Wien 2012
272 Seiten, 19,90 Euro
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