Auf der Suche nach einer verschwundenen Stadt

Rezensiert von Susanne Mack · 10.10.2005
Vor elf Jahren hat er sich auf die Suche nach den Ruinen von Rungholt, der Handelsstadt an der nordfriesischen Küste, begeben. Jetzt berichtet uns der Ethnologe und Kulturhistoriker Hans Peter Duerr in seinem Buch, was er gefunden hat: "Rungholt. Die Suche nach einer versunkenen Stadt".
Mit Rungholt verhält es sich anders als mit Atlantis oder mit Vineta. Denn Rungholt, das ist sicher, hat es tatsächlich gegeben. Rungholt war eine Handelsstadt an der nordfriesischen Küste. Die versank in der Marcellusnacht des Jahres 1362, verschlugen von einer Sturmflut, so steht es jedenfalls in den Geschichtsbüchern.

Und in deutschen Lesebüchern blühen die Sagen: Detlev von Liliencron, ein Dichter aus dem 19. Jahrhundert, hat eine Ballade über den Untergang von Rungholt geschrieben. Dort heißt es: "Rungholt ist reich und wird immer reicher, kein Korn mehr fasst selbst der größte Speicher... Auf allen Märkten, auf allen Gassen lärmende Leute, betrunkene Massen." – Rungholt wird oft als das "friesische Sodom" gehandelt und sein Untergang als Strafe Gottes für ein Leben in Sünde dargestellt.

Wie hat es nun tatsächlich ausgesehen in Rungholt? Wie und warum ist es untergegangen? Diese Frage hat den Ethnologen Hans Peter Duerr elf Jahre lang beschäftigt. Zusammen mit Studenten und Mitarbeitern der Universität Bremen hat er wieder und wieder im Wattenmeer vor der nordfriesischen Küste gegraben: Dort, wo er persönlich diese versunkene Stadt vermutet - gemäß einem Luftbild und einer Landkarte aus dem 17. Jahrhundert, die Rungholt um 1240 beschreibt.

Der Autor vermeldet, seine Forschungen seien von Anfang an durch Feinde und Neider behindert worden – durch starrsinnige Behörden, missgünstige Kollegen von der Bremer Universität und nicht zuletzt durch Archäologen vom Fach, die ihn, den Völkerkundler, als "Dilettanten ohne Sachkenntnis" in allen Zeitungen verschrien haben.

Der Autor gibt an, die Reste der Kirche von Rungholt gefunden zu haben. Besondere Schätze – von ein paar Münzen abgesehen – fand er dagegen nicht. Warum? Duerr hat ein paar alte Chroniken ausgegraben: Die Stadt ist nicht , wie die Sage und manches Geschichtsbuch berichtet, in einer einzigen Nacht versunken, sondern wurde – wegen wiederkehrender Fluten und maroder Deiche - sukzessive geräumt : Kirchenportal und Altar zum Beispiel hat man in umliegende Gotteshäuser verbracht.

Duerr fand auch die Trümmer weit älterer Siedlungen - und sogar Scherben von Keramik, die aus der Zeit der minoischen Kultur auf Kreta stammen. Damit, so der Autor, erhärtet sich eine Vermutung, die in Historikerkreisen schon länger die Runde macht: Die deutsche Nordseeküste ist nicht – wie bisher allgemein angenommen - im 4. Jahrhundert v. Chr. von dem griechischen Seefahrer Pytheas aus Massilia entdeckt worden, sondern schon tausend Jahre früher von den Schiffen der Kreter.

Hans Peter Duerr kann schreiben, keine Frage: Die ersten vierzig Seiten seines Buches lesen sich wie ein Abenteuer- Roman. Danach hat man leider manchmal den Eindruck, da hat einer einen Bericht an die Deutsche Forschungsgemeinschaft verfasst. Rund 400 Seiten Text folgt ein Anmerkungs-Apparat von 300 Seiten, ein leserfreundliches Resümee am Ende des Buches dagegen fehlt.

Dennoch: Ein empfehlenswertes Werk für Leser mit Interesse an Völkerkunde und Kulturgeschichte. Duerr ist ein brillanter Ethnologe mit einem weit gespannten Bildungshorizont. Der Leser erfährt Erstaunliches über das Leben im 14. Jahrhundert nach und im 14. Jahrhundert vor Christus. Zum Beispiel, dass es bis 1378 einen Bischof von Grönland gegeben hat. Oder dass die weibliche Sommermode 2005 – bauchfreier Mini und geflochtener Ledergürtel – schon rund Dreieinhalbtausend Jahre auf dem Buckel hat: diese Kluft war schon bei den Jungfrauen der Bronzezeit beliebt.


Hans Peter Duerr: Rungholt. Die Suche nach einer versunkenen Stadt
Insel-Verlag Frankfurt am Main 2005
419 Seiten. 28 Euro