Auf der Suche nach der "Konterrevolution"

Rezensiert von Gregor Ziolkowski · 18.04.2006
György Dalos' Erzählung könnte man für einen Text der Abrechnung halten. Sein Werk "Balaton-Brigade" ist es aber keineswegs. Vielmehr verhandelt der Autor das große Thema der persönlichen Schuld und des Verrats am Beispiel eines kleinen, beinahe alltäglichen Dramas unter den Bedingungen des real existierenden Sozialismus.
Die zerbröckelten Überreste einer einst gewaltigen Macht, wie sie zu einem Schatten ihrer selbst geworden, ja "auf den Hund gekommen" ist, bilden die Ausgangslage in György Dalos' Erzählung "Balaton-Brigade". Dieses "auf den Hund kommen" ist dabei ganz wörtlich zu nehmen: Denn als Josef Klempner, ehedem Hauptmann beim Ministerium für Staatssicherheit, sich Mitte der neunziger Jahre die Ereignisse von 1988/89 in Erinnerung ruft, hat er offenbar außer seinem alten Hund Hugo niemanden, dem er diese Erinnerungen mitteilen könnte. Auf sieben Spaziergängen erzählt er seinem Hund das Geschehene, und dass das alte kranke Tier nicht antwortet, tut dem chronologischen Monolog keinen Abbruch.

Seine Frau hat diesen Josef Klempner längst verlassen, seine Tochter hat ebenfalls mit ihm gebrochen, und es sind am Ende diese Erschütterungen, die seine Existenz zu einer Ruine gemacht haben.

Als Kind wurde Josef Klempner, aus einer deutschstämmigen Familie stammend, 1948 aus Ungarn ausgesiedelt und wurde, in den Anfangsjahren der DDR, als fleißiger, ambitionierter junger Mann von der Stasi "entdeckt". Er heuerte ohne ein Zögern bei der "Firma" an, als die ihm - in Gestalt eines väterlichen Offiziers - eine Laufbahn in ihren Reihen anbot. Diese Laufbahn freilich vollzog sich nicht bei heißen Auslandseinsätzen, nicht einmal bei der Unterdrückung inländischer Regimegegner verdiente sich der spätere Hauptmann seine Sporen, sondern in der Abteilung für Auslandstourismus: Am Schreibtisch ist er mit der Auswertung jener Spitzelberichte befasst, die die Inoffiziellen Mitarbeiter aus den entsprechenden Urlaubsgebieten, von sozialistischen Bruderstränden und -gebirgen, über das Verhalten der DDR-Bürger übermitteln: Finden "Westkontakte" statt, Treffen mit ausgereisten Freunden oder Familienangehörigen, politische Diskussionen am Lagerfeuer? - So lauteten die brisanten Fragen, die für die Sicherheit des Staates von hoher Bedeutung waren.

1988 erfüllt sich eine große Sehnsucht für den frisch beförderten Hauptmann Klempner. Er soll für Monate seinen Schreibtisch verlassen dürfen, um die Sommer-Urlauber-Observierungsaktion vor Ort, an den Stränden des Balaton, zu leiten. Voller Vorfreude über diese traumhafte Aussicht macht er plötzlich die Entdeckung, dass seine siebzehnjährige Tochter einen Freund hat. Daran wäre für den liberalen, wenn auch prinzipienfesten Tschekisten nichts Besonderes, allerdings ergibt eine flüchtige Recherche, dass der junge Mann mit dem getönten Teint ein chilenischer Emigrant ist, der aus West-Berlin einreist, um sich mit der Hauptmannstochter zu treffen. Nicht genug damit, die Recherche ergibt obendrein, dass der junge Chilene einer trotzkistischen Gruppierung angehört und sich offenbar bemüht, unter jungen Leuten in der DDR zu "missionieren".

Pflichtschuldig erstattet der Hauptmann Meldung. Die Angelegenheit wäre leicht zu regeln: dem trotzkistischen Chilenen müsste man lediglich ein paar Mal die Einreise verweigern, schon wäre der Affäre die Grundlage entzogen. Zu seiner Überraschung wird Klempner aber von seinem väterlichen Vorgesetzten aufgefordert, dem Treiben der beiden jungen Leute scheinbar wohlwollend zuzusehen und Berichte zu schreiben. Das ersehnte Balaton-Ziel vor Augen, willigt Klempner ein. Seinen letzten Bericht über die beiden Liebenden wird er im Sommer 1989 verfassen, zweifelhaft glücklich in seinem Balaton-Einsatz, gleichsam umringt von Scharen von DDR-Bürgern, die das große Ziel "Westen" über Ungarn erreichen wollen.

Am Ende geht nicht nur der Weltenwandel über den Stasi-Hauptmann hinweg, auch seine private Welt gerät aus allen Fugen. Seine Frau verlässt ihn, nachdem sie von einer Strand-Affäre des Hauptmanns während seines Balaton-Einsatzes erfährt, die Tochter fühlt sich verraten, weil sie - später, nach Einsicht in ihre Stasi-Akten - ihren Vater als den Hauptlieferanten für die Spitzelberichte über sich selbst ausmacht.

Dalos' Erzählung könnte man für einen Text der Abrechnung halten. Er ist es aber keineswegs. Vielmehr verhandelt der Autor das große Thema der persönlichen Schuld und des Verrats am Beispiel eines kleinen, beinahe alltäglichen Dramas unter den Bedingungen des real existierenden Sozialismus. Er unterläuft dabei die gängigen Klischees. Sein Stasi-Hauptmann ist eine durchaus gebrochene Figur: einerseits treuer "Tschekist", andererseits ein zweifelnder Mensch, der schwere Bedenken hat, seine Tochter auszuspionieren, sich aber schließlich der fragwürdigen Raison seines Dienstherrn beugt.
Detail- und kenntnisreich erzählt Dalos die Stasi-DDR. Im Mittelpunkt steht dabei aber nicht die allgegenwärtige und monströse "Krake", wie sie über Jahre hin beschrieben wurde. Eher geht es um den bürokratischen und ausufernden Apparat, der sich zunehmend seine eigene Welt baut und nach deren Koordinaten handelt. Das ergibt nicht selten einen satirischen und absurden Unterton, den Dalos geschickt unter seine realistische Erzählung mischt, ohne ihn auszustellen. Allein die Vorstellung, wie die Berichte über Hunderttausende Urlauber ausgewertet werden, weil man dort nach Spuren der "Konterrevolution" sucht, erzeugt zugleich Schaudern und Lachen. Ähnlich ergeht es dem Leser mit der Diensteifrigkeit der "Kundschafter", die klammheimlich Daten über einen Zustand sammeln (die Ansammlung von DDR-Bürgern in Ungarn, um in den Westen zu gelangen), der längst Gegenstand der Fernsehberichte ist. Und schließlich ist es nicht ohne Komik, wie der Mittfünfziger Josef Klempner sich schwer tut, gleich drei Identitäten und Legenden unter einen (Schlapp-)Hut zu bringen: seine eigene, die dienstliche für den Balaton-Einsatz und die private für die Strand-Geliebte.


György Dalos: Balaton-Brigade
Deutsche Bearbeitung von Elsbeth Zylla nach einer Rohübersetzung von György Dalos.
Rotbuch, Hamburg 2006, 190 Seiten