Auf der Suche nach der eigenen Geschichte

Rezensiert von Marius Meller · 06.12.2005
Der Geschichtslehrer Paul de Wit hat seine Eltern in Auschwitz verloren und als Einziger überlebt. Als er auf einem Foto seinen tot geglaubten Zwillingsbruder zu erkennen meint, macht er sich auf die Suche nach seinen jüdischen Wurzeln.
Paul de Wit langweilt sich und macht den Fernseher an. Jeden Tag verbringt er viele Stunden vor der Flimmerkiste. Sogar seine Frau macht sich schon Sorgen um ihn. Seine beiden Kinder verstehen nicht, warum sie nur kurz Fernsehen dürfen und ihr Vater ganze Nächte, sogar Tage lang.

De Wit wird immer verwirrter. Einerseits will er seine Depressionen kurieren und andererseits findet er zunehmend Interesse an sorgfältig gemachten Dokumentationen über fremde Kulturen. Ein Film über japanische Musik beruhigt ihn, und er nimmt ihn auf Video auf und sieht ihn immer wieder. Aber de Wit, der an einer Studie über die Französische Revolution arbeitet, mit der er nicht so recht vorankommt, spürt, dass die buddhistisch geprägten Klänge kaum seine eigene Kultur, die Kultur Israels, repräsentieren. Andererseits ist er auch süchtig nach scheinbar beliebigem TV-Ramsch, den er wahllos in sich einsickern lässt.

Seine Frau rät ihm, sich auf seine Studie zu konzentrieren. De Wit ist sich unsicher, ob er ein Sachbuch oder einen Roman schreiben soll: So wichtig ist ihm das Thema der Flucht von Louis XVI. und seiner Frau Marie Antoinette. Er kann kaum fassen, dass ein scheinbar marginales Ereignis wie die gescheiterte Flucht des Königspaares in Richtung Deutschland so historisch bedeutsame Folgen haben soll. Er interessiert sich für die Frage von Schicksal und Notwendigkeit, die ihn als Historiker wissenschaftlich durcheinander bringt. Eine Verwechslung?

Er lernt in Paris eine französische Jüdin kennen, in die er sich verliebt. Seine Frau wähnt ihn in der Bibliothèque Nationale bei der Arbeit. Aber Paul entdeckt seine jüdischen Wurzeln - und erfährt von Paulette, seiner Geliebten, viel über seine verdrängte Kultur.

Seine Eltern wurden kurz vor Kriegsende von den Nazis und ihren Kollaborateuren ermordet. Paul wurde bei einer Pflegefamilie untergebracht. Paul hatte einen Zwillingsbruder, dessen Namen er nicht einmal kennt - von ihm fehlt jede Spur, wahrscheinlich ist auch er wie seine Eltern der Shoah zum Opfer gefallen. Paul quält die Frage, warum ausgerechnet er überlebt hat und nicht sein Zwillingsbruder? Er findet keine Antwort darauf.

Auf einem Photo, auf dem Pauline an der Ehrensäule der Französischen Revolution auf der Place de la Bastille zu sehen ist, meint er schemenhaft seinen Bruder zu erkennen. Wie in Antonionis Filmklassiker "Blow up" versucht er durch eine fotomechanische Vergrößerung das Gesicht seines Bruders wieder zu erkennen. Und nun macht er sich auf die Suche nach seinem Bruder...

Leon de Winter: Place de la Bastille
Roman. Deutsch von Hanni Ehlers
Diogenes Verlag 2005,
157 Seiten, 17 Euro 90.