Auf der Suche nach dem Wir

Vom Multikulti-Salat zur Pizza-Republik

36:39 Minuten
Illustration: Draufsicht einer Familie beim Essen.
Was gehört mir, und wo liegen die Grenzen meines "Wir"? - Noch bevor wir "Ich" sagen, wachsen wir in enge und weitere Kreise anderer Menschen hinein, sagt der Philosoph Arnd Pollmann. © imago images / Patrick George
Arnd Pollmann im Gespräch mit Catherine Newmark · 24.01.2021
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Wie gelingt die Balance von Ich und Wir? Welche Gesellschaftsform kommt mit der Spannung zwischen Autonomie und Integration am besten zurecht? Der Philosoph Arnd Pollmann hat dafür das Leitbild einer Pizza: vielfältig belegt, mit krossem Rand.
Wie sich das Ich zum Wir verhält, diese Frage berührt jede und jeden von uns ganz persönlich, aber gleichzeitig wirft sie weitreichende philosophische und politische Probleme auf. Es geht dabei um unsere allernächsten Beziehungen und andererseits um schwer greifbare Größen wie "Gesellschaft", "Kultur" oder "Nation". Dieser Spagat zeige sich zurzeit besonders deutlich am Ringen um die Kontaktbeschränkungen während der Coronapandemie, sagt Arnd Pollmann, Professor für Ethik und Sozialphilosophie an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin.

Kontaktsperre im Namen einer abstrakten Gemeinschaft

"Das konkrete Wir, also der soziale Nahkontakt, soll ja derzeit durch Social Distancing möglichst minimiert werden", sagt Pollmann, "und dies wiederum geschieht im Namen eines sehr abstrakten Wirs: der Gesellschaft oder der Solidargemeinschaft. Das bedeutet in meinen Augen: Ein abstraktes Wir wird auf Kosten sehr konkreter Wirs stabilisiert, und vielen geht das offenkundig mit der Zeit zu weit. Insofern ist es stets auch wichtig zu klären, von welchem 'Wir' wir gerade reden."
Wie springt zwischen den jeweils Einzelnen und dem abstrakten Wir der Funke über? Durch welche Bindekräfte gelingt es Gesellschaften, ein "Wirgefühl" zu erzeugen und ihre Bevölkerung zu einer Gemeinschaft zusammenschließen, die den Radius persönlicher Kontakte jedes ihrer Mitglieder weit übersteigt? Und wie vertragen sich die Ansprüche des Wirs mit dem individuellen Streben nach Autonomie? Solchen Fragen widmen sich die drei Programme des Deutschlandradios 2021 in der Denkfabrik "Auf der Suche nach dem Wir".
Wer "wir" sagt, kann freilich alles Mögliche meinen. Je nach den angelegten Kriterien werden die Kreise mal enger und mal weiter gezogen: vom Paar oder der Kleinfamilie über Freundeskreise, Vereine oder Parteien bis zu Religionsgemeinschaften. So gesehen ist das "Wir" ein äußerst unscharfer Begriff. Doch schon ein Blick auf die Sprache könne mehr Klarheit schaffen, sagt Arnd Pollmann.

Philosophie der Geburt: Das Ich entsteht aus dem Wir

Als erste Person Plural sei das "Wir" zunächst schlicht "ein erweitertes Ich". Doch welche enormen Kräfte Einzelnen durch den Schritt vom Ich zum Wir zuwachsen können, "das merken wir spätestens dann, wenn ein uns wichtiges Wir zerbricht", so Pollmann: "Eine Freundschaft, eine Liebe, eine identitätsstiftende Gruppe – dann nämlich bleibt plötzlich ein verletztes Ich zurück, das viel schwächer ist als jenes, das ursprünglich mal in dieses Wir hinein gegangen sein mag."
Dass es alles andere als selbstverständlich sei, überhaupt "Ich" sagen zu können, betonten in der Philosophie etwa Denker des deutschen Idealismus wie Hegel und Fichte, erklärt Pollmann. Sie befassten sich intensiv mit der Frage, ob das Subjekt der zwischenmenschlichen Intersubjektivität vorausgehe oder überhaupt erst in ihrem Rahmen entstehe.
Betrachte man die Sache von der Geburt und der frühkindlichen Entwicklung des Menschen her, dann liege die Antwort auf der Hand, so Pollmann: "Das Ich entsteht erst aus dem Wir."
Arnd Pollmann schaut freundlich in die Kamera.
Vermisst bei Salat eine solide Grundlage: der Berliner Ethiker und Sozialphilosoph Arnd Pollmann.© privat
Eine Philosophie der Gebürtlichkeit werfe von daher auch ein anderes Licht auf die vermeintliche Autonomie des Individuums: "Irgendwann müssen wir raus aus dem Intimen des Mutterleibs", sagt Pollmann, "wir müssen ein Ich erst noch werden. Aber gleichzeitig bleibt dieses Ich zukünftig immer, auf teilweise sehr verletzliche Weise, von verschiedenen Wirs abhängig."

Geselligkeit als Zuflucht oder Zumutung

Aus der Sicht der jeweils Einzelnen könne die Gemeinschaft Zuflucht bieten oder eine Zumutung sein, so Pollmann: "Auf der einen Seite ist da ein Ich, das immer auch ein Wir sucht, weil es sich sonst viel zu einsam fühlen würde, auf der anderen Seite neigt das gesuchte Wir nicht selten dazu, dieses Ich zu vereinnahmen, also es zu kollektivieren."
Der Philosoph Immanuel Kant fand für dieses Spannungsverhältnis den Ausdruck der "ungeselligen Geselligkeit". Die Rockband U2 brachte das Paradox auf ihre eigene Formel, sagt Pollmann: "I can't live with or without you". Bis heute bestimme das Kräftespiel von Gruppenbildung und Autonomiestreben ganz wesentlich unsere soziale Dynamik.
Welche Gesellschaftsform die Grundspannung zwischen Ich und Wir, zwischen Integrität und Integration, am besten in den Griff bekommt, darüber gehen die Ansichten auch in der Forschung auseinander. Besonders anschaulich führen dies zwei konkurrierende Metaphern aus Küche und Chemielabor vor Augen.

Melting Pot, Salad Bowl oder Pizza?

In Abgrenzung zum "Melting Pot", zu Deutsch: Schmelztiegel, wo verschiedene Elemente, zum Beispiel Metalle, zu einer homogenen Verbindung verschmelzen, hat sich in Sozialphilosophie und Soziologie das Bild der "Salad Bowl" etabliert: als Metapher für die multikulturelle Gesellschaft.
In einer Salatschüssel bleiben nämlich alle Zutaten noch als solche erkennbar, will sagen: die Mitglieder dieser Gesellschaft, Individuen oder einzelne Gruppen, bewahren ihre jeweilige Identität, während sie nur lose von einem "Dressing" – etwa dem für alle verbindlichen Rechtssystem – zusammengehalten werden.
Arnd Pollmann mag sich mit beiden Gesellschaftsbildern nicht recht anfreunden und schlägt deshalb eine weitere Metapher vor. Für ihn kommt der goldene Mittelweg zwischen Kollektivismus und Individualismus am besten in Gestalt einer Pizza zum Ausdruck: vielfältig belegt mit Zutaten, die ihren Charakter behalten, dabei aber zugleich auf einem gemeinsamen Grund zueinanderfinden.

Blasen und Echokammern auf einem dünnen Boden

Was diese Gedankenspiele deutlich machen: Das soziale und politische Wechselverhältnis von Ich und Wir kennt viele Fronten. Wie steht es, um bei der Pizza zu bleiben, um die Abgrenzung des eigenen "Wir" gegen "die Anderen"? Pollmann wünscht sich einen "krossen Rand", der – diplomatisch gesprochen – dennoch "durchlässig" bliebe, sodass "ein respektvoller Umgang miteinander und auch eine wechselseitige Öffnung möglich würde."
Fragen der Grenzziehung stellen sich zudem mit Blick auf die inneren Verhältnisse: Inwiefern gefährden geschlossene Communities mit ihren jeweiligen Blasen, Echokammern und Identitätspolitiken den Zusammenhalt eines übergreifenden Wirs? Ins Kuliniarische gewendet: Was tun, damit aus einer Quattro Stagioni nicht eine Pizza wird, auf der nicht nur jedes Viertel unterschiedlich belegt ist, sondern sich noch viel mehr Parzellen voneinander absondern, auf ihrer jeweiligen Eigenart beharren und jede Verbindung untereinander abbrechen – einem wie knusprig oder luftig auch immer gebackenen Außenrand zum Trotz?

Die gemeinsame Sache muss überschaubar bleiben

Am meisten wünschenswert erschiene Pollmann ein inklusives Wir, dem es gelänge, Gemeinschaft zu stiften, ohne dabei aus Ausschluss oder Abschreckung zu setzen. "Im Rahmen dieser geteilten Gemeinsamkeit müssen wir allerdings damit leben können, dass Individuen auch Individuen bleiben wollen", fügt er hinzu. Daraus resultierende Reibungen seien nicht nur unumgänglich, sondern letztlich positiv, "weil sie die Gemeinschaft ja immer auch herausfordern und voranbringen."
Eine wesentliche Voraussetzung für "gesunde Halbdistanz" innerhalb einer Gesellschaft sieht Pollmann allerdings darin, dass deren Grenzen nicht zu weit gefasst werden. So fantastisch die Vorstellung von einer global geeinten Menschheit auch erscheine, ein Wir von dieser Größenordnung sei "vermutlich zu abstrakt, als dass wir uns identitätsstiftend dahinter versammeln könnten."
Demokratien müssten "überschaubar bleiben" und "sich von innen heraus selbst bestimmen können", sagt Pollmann, nur dann könnten sich die Beteiligten "mit diesem Gemeinwesen identifizieren als einer gemeinsamen Sache, einer Res publica, für die wir alle Verantwortung tragen – und nicht nur 'die da im Regierungsviertel'." Insofern seien die derzeitigen Polarisierungen in den USA, aber auch hierzulande, "Ausdruck einer gewissen demokratischen Verantwortungslosigkeit": Mit dem gesellschaftlichen Wir stehe auch "die Handlungsfähigkeit der Demokratie" auf dem Spiel.
(fka)

Arnd Pollmann: Integrität. Aufnahme einer sozialphilosophischen Personalie
Zweite überarbeitete Auflage
Transcript Verlag, Bielefeld 2018
408 Seiten, 29,99 Euro

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