Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies

Boote vor der Ile Coin de Mire auf Mauritius, aufgenommen am 06.04.2008.
Was ist hinter der tropisch schimmernden Fototapete von Mauritius zu entdecken? © picture-alliance/ dpa / Lars Halbauer
Von Antje Allroggen · 18.10.2014
"Zuerst wurde Mauritius geschaffen, dann das Paradies. Aber das Paradies war nur eine Kopie von Mauritius", sagte Mark Twain, als er im Jahr 1896 die Insel bereiste. Allein der Name ist bis heute Mythos geblieben.
Eine Projektionsfläche für die Sehnsucht nach dem Paradies auf Erden, gelegen am anderen Ende der Welt in den türkisschimmernden Gewässern des Indischen Ozeans, Heimat der gut gehüteten Blauen Mauritius. Im Jahr 2012 reisten allein 55.000 deutsche Touristen nach Mauritius. Sie wohnen in tropischen Hotelarchitekturen, werden von gut aussehendem und immer lächelndem Hotelpersonal verwöhnt und blicken auf unglaublich schöne türkisfarbene Lagunen.
Doch was ist hinter dieser tropisch schimmernden Fototapete zu entdecken? Das soziale Gefälle zwischen Arm und Reich, Schwarz und Weiß, Hindus, Moslems und Christen wird größer. Und auch die Natur zeigt Insulanern und Besuchern gleichermaßen die Grenzen dieses irdischen Paradieses: Von November bis April ziehen regelmäßig Wirbelstürme und Zyklone über Mauritius. Ihre Auswirkungen können verheerend sein, Menschenleben oder Existenzen bedrohen. Vielleicht machen gerade diese gelebten Gegensätze den Reiz der tropischen Insel aus, die 1968 unabhängig wurde und bis auf den heutigen Tag mit der Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit beschäftigt ist. Ein ewiges Kommen und Gehen der Gezeiten, von Menschen, Geschichten und Schicksalen.
Nicht nur Mark Twain war dem Charme der Insel erlegen, auch Charles Baudelaire schwärmte vom Land der Düfte.
"Seit Sonnenaufgang hatte ich Ausschau nach vorn gehalten. Das Schiff glitt sanft durch das glatte Wasser. Nach einer Reise von sechzig Tagen wartete ich gespannt auf das Insichtkommen meines Zieles, einer fruchtbaren und schönen Tropeninsel. Enthusiastische Bewohner nennen sie gerne die 'Perle des Ozeans'. Nun gut, sie soll 'Perle' heißen. Ein guter Name. Eine Perle, die der Welt viel Süße spendet."
aus: Joseph Conrad, "Ein Lächeln des Glücks"
Joseph Conrad
Ein Lächeln des Glücks

Hafengeschichte. Mit e. Nachw. v. Brigitte Kronauer.
2003 Suhrkamp
Auf einer exotischen Insel lebt die achtzehnjährige Alice, Ergebnis einer Affäre ihres Vaters Jacobus mit einer Zirkusreiterin. Die Stadt straft den Händler, indem sie sein Kind ächtet, es kann nicht aus dem Haus. Ein Kapitän, dessen Schiff im Hafen festliegt, wird in das Haus eingeladen, er fühlt sich angezogen.
"Mittwoch 15. April. Mauritius. Kamen um zwei Uhr früh vor Port Louis an und gingen vor Anker. Zerklüftete Felsenberge und bis zum Gipfel hinauf grüne Kuppen, von ihrem Fuß bis zum Meer eine grüne Ebene, die gerade genug Neigung aufweist, um das Wasser ablaufen zu lassen. Ich glaube, es liegt unter 56 Grad östlicher Länge und 22 Grad südlicher Breite – ein heißes tropisches Land. Die grüne Ebene sieht einladend aus; verstreute Wohnhäuser kuscheln sich in das Grün. Schauplatz des gefühlten Abenteuers von Paul und Virginie." aus: Mark Twain: Dem Äquator entlang

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Ein kleines Land mit etwas mehr als einer Million Einwohner, etwa 900 Kilometer östlich von Madagaskar und etwa 200 Kilometer ebenfalls östlich vom französischen Übersee-Departement La Réunion entfernt, bevölkert von einer Heerschar von tropischen Vögeln. Ihr Gesang ist auf der Insel allgegenwärtig. Er liegt immer in der Luft und unterscheidet sich in seinem vielstimmigen Klang von dem der nordischen Singvögel. Keine Erinnerung an Mauritius kommt ohne das Gegurre der mauritischen Ringeltaube aus. Ein hübscher Vogel mit kleinem Kopf, grauem Flügel und ebenso dunklem Gefieder. Seine Schwester, die sogenannte Mauritiustaube, gibt es nur noch im Süden der Insel. Außer ihr beherrscht noch der freche Kardinalsvogel den Archipel. Seine schwarze Haube und sein schwarz-rotes Federkleid erinnern an die klerikale Ordenstracht kirchlicher Würdenträger. Und es gibt hübsche kleine zitronengelbe Vögel, die an Kanarienvögel erinnern.
Ihre Nester gleichen hölzernen, filigranen Kokons, die die Vögel in die Zweige der gigantischen Bäume der Insel hineinbauen: Schatten spendende Filaos, Kasuarinen, Flamboyants, Banyan-Bäume, deren Lianen wie ein Vorhang bis auf den Boden herunterhängen.
Noch vor einigen Jahrhunderten beherrschten zahlreiche weitere Vogelarten die Insel: Der hyazinthblaue Papagei, der Solitär von Mauritius´ Nachbarinsel Rodrigues, der mauritische Falke. Inzwischen sind sie ausgestorben.
Der bekannteste von ihnen ist der Dodo. Ein Vogel, den es lange Zeit nur auf Mauritius gab, der aber schon seit mehr als 300 Jahren ausgerottet wurde. Er war nicht so hübsch wie die anderen bunten Vögel, die Mauritius noch farbenreicher machten: Sein Fell soll ziemlich verstrubbelt und grau gewesen sein, und er hatte einen langen schwarzen Schnabel. Der Dodo war trotzdem ein außergewöhnlicher Vogel. Er hatte zwar kleine Flügel, konnte damit aber nicht fliegen und war ziemlich schwer. Der Dodo hat auch Eier gelegt. Zumindest auf Mauritius soll es aber kein einziges mehr geben.
Wer dem Dodo auf Mauritius noch begegnen will, muss nach Port Louis fahren, der quirligen kleinen Hauptstadt der Insel, deren Charme sich erst auf den zweiten Blick entfaltet. Man muss sich nur an der repräsentativen Palmen-Allee orientieren, an der sich die wichtigsten Ministerien befinden. Wenn man das Büro des Premierministers, das sich in einem auffällig gut renovierten Kolonialbau befindet, links liegen lässt, erscheint ein kleiner Park. Darin freche poppig-bunte Dodos aus Gips. Der Park gehört zum National History Museum, dem Museum für Naturkunde, das sich in einem heruntergekommenen historischen Gebäude befindet. Den Eingang bewacht ein Wärter in Uniform. Wie das Gebäude, ist auch er ungepflegt. Seine Schirmmütze hat er über seine Augen heruntergezogen, die Füße liegen auf der Spanholzplatte eines eigentlich ausgedienten Tisches.
The National History Museum of Mauritius, Mahébourg

Einer kreolischen Dame
Im duftdurchwühlten Land, von Sonnenlicht umschmeichelt,
Wo sich ein Baldachin purpurner Bäume spannt
Und von den Palmen Trägheit auf die Lider träufelt,
Hab ich voll fremder Reize eine Frau gekannt.
Ihr Antlitz hell und warm; die braune Zauberin,
Wie sich ihr Hals in ausgesuchtem Stolze hält!
Groß schreitet sie und schlank wie eine Jägerin,
Still ist ihr Lächeln und ihr Auge unverstellt.
Erginget Ihr, Madame, Euch in dem wahren Land
Des Ruhms, die Seine entlang an grüner Loire Strand:
Die alten Schlösser würde Eure Schönheit schmücken,
Im Schutze würdet Ihr von schattigen Verstecken
Tausend Sonette in der Dichter Herzen wecken,
Gefüger noch als Eure Schwarzen Euren Blicken.

1841 schickt der Stiefvater des jungen französischen Dichters Charles Baudelaire seinen Sohn auf eine Schiffsreise. Sie soll den jungen Mann nach Indien führen und ihm den Einfluss des lotterhaften Pariser Dandylebens entziehen. Nach drei Monaten erreicht das Schiff aus Bordeaux Mauritius, wo Baudelaire für 14 Tage von den Eheleuten Autard de Bragard aufgenommen wird. Danach fährt Baudelaire weiter nach La Réunion, von wo aus er verfrüht seine Heimatreise antritt. Am 20. Oktober 1841 schreibt er Monsieur Autard de Bragard einen Brief aus La Réunion. Beigefügt ist das Gedicht, das er Bragards Frau gewidmet hat: "À une dame créole – Einer kreolischen Dame".
Nicht weniger exotisch mutet der Roman Paul und Virginie des französischen Schriftstellers Bernardin de Saint Pierre an. An vielen französischen und mauritischen Schulen ist er noch heute Pflichtlektüre:

"Ich habe mir bei diesem kleinen Werke große Dinge vorgesetzt. Ich versuchte einen Boden und eine Vegetation zu schildern, die von der Europa's himmelweit verschieden ist. Lange genug haben unsre Dichter ihre Liebenden an Bachesufern, auf Wiesen und unter dem Laubwerk der Buchen ausruhen lassen. Die meinigen mußten sich auf dem Gestade des Meeres, am Fuße der Felsen, im Schatten der Cocospalmen, der Bananen und blühenden Citronenbäume niedersetzen. [...] Ich wünschte, mit der Schönheit der Tropennatur die moralische Schönheit einer kleinen Gesellschaft zu verbinden. Dabei beabsichtigte ich den Beweis von mehreren großen Wahrheiten herzustellen, zum Beispiel von der, daß unser Glück einzig und allein auf einem natur- und tugendgemäßen Wandel beruht. Ich brauchte nicht erst einen Roman zu ersinnen, um glückliche Familien zu schildern." Aus:
Bernardin de Saint Pierre, Vorwort aus Paul et Virgine

1787 schrieb der Robinson-Crusoe-infizierte Bernardin de Saint-Pierre den Roman Paul et Virginie. Ein ungleiches Liebespaar, das auf Mauritius, der damaligen Île de France, die gesellschaftlichen Differenzen überwindet, am Ende jedoch den Tod findet. Erstmalig spielte ein klassischer Stoff in den Tropen, die hier, ganz im Rousseauschen Sinne, Folie für eine tugendhafte Seele sind. Den europäischen Norden sieht Saint-Pierre durch den Verfall der Sitten bedroht. Hier aber, in den Tropen der südlichen Hemisphäre, findet er den ewig ersehnten Garten Eden:
"Paul und Virginie besaßen weder Uhren noch Kalender oder Bücher über Zeitrechnung, Geschichte und Philosophie. Die Zeitabschnitte ihres Lebens richteten sich nach denen der Natur. Sie erkannten am Schatten der Bäume, welche Tageszeit sie hatten, und die Jahreszeiten an der Zeit, wo sie Blüten oder Früchte trugen."

Und an anderer Stelle heißt es in dem Roman:
"Ihr Europäer, deren Geist von früher Jugend so viele dem Glück hinderliche Vorurtheile aufnimmt, ihr könnt nicht begreifen, dass die Natur so viel Verstand und Freude zu geben vermöge."

Eine Autofahrt in den Süden der Insel. Nur am Ende der Strecke führt die Straße direkt an der Küste entlang, ganz dicht an der Halbinsel Le Morne vorbei. Von hier aus zeigt sich der 556 Meter hohe Berg in seiner ganzen majestätischen Schroffheit: Seine Schauseite wendet sich dem Landesinneren zu, seine Rückseite weist aufs Meer. Beide Elemente verbinden sich und verschwinden gemeinsam im unendlichen Nichts des Indischen Ozeans.

"Ich habe den Felsen noch nie so in der Nähe gesehen. Le Morne ragt über dem Meer auf, er gleicht einem Lavabrocken, ohne einen Baum, ohne eine Pflanze. Rings um ihn erstrecken sich die hellsten Sandstrände, das Wasser der Lagunen. Es ist, als führen wir auf das Ende der Welt zu. Die Seevögel umkreisen uns schreiend, riesige Fregattenvögel. Mein Herz hämmert, und ich zittere vor Bangigkeit, denn ich habe den Eindruck, sehr weit fort zu sein, auf der anderen Seite des Meeres", heißt es in Jean Marie Gustave Le Clézios Roman "Der Goldsucher", der auch die Geschichte einer Kindheit auf Mauritius erzählt.

Jean Marie Gustave Le Clézio
Der Goldsucher

Roman. Aus d. Französ. v. Rolf u. Hedda Soellner
2008 Kiepenheuer & Witsch
Die Suche nach dem Schatz ist eine Reise in die Träume seiner Kindheit, was er sucht, entdeckt er schließlich in sich selbst.Auf der Insel Mauritius im Indischen Ozean verbringt Alexis, der Ich-Erzähler von J.M.G. Le Clézios Roman, seine Kindheit in einer zauberhaften tropischen Landschaft nicht weit vom Meer. Die Mutter, der Vater, der Träumer, erklärt ihnen den Sternenhimmel. Doch was so paradiesisch schien, bricht jäh zusammen, als der Vater 1892 mit seinen dilettantischen Geschäften Konkurs macht und ein Zyklon das Land verwüstet. Verarmt lebt die Familie in der Stadt Forest Side, wo der Vater stirbt. Um Unglück und Armut zu überwinden, bricht Alexis 1920 mit einem Segelschoner zu einer fantastischen Reise übers Meer auf. Er will nach alten Plänen und Karten seines Vaters einen sagenhaften Schatz heben, das Gold des Korsaren, dessen Versteck ihm sein Vater, bevor er starb, noch verraten hat - in einer Bucht auf Rodrigues, einer kleinen Insel im Indischen Ozean. Doch das Gold, nach dem Alexis immer verzweifelter sucht, bleibt unauffindbar. Ouma, eine junge Schwarze, rettet ihn, und er glaubt für einige Zeit bei ihr das Glück gefunden zu haben. Der Erste Weltkrieg bricht aus, und Alexis meldet sich freiwillig, er kämpft in der englischen Armee in Frankreich, an der Somme. Es sind für ihn "tote Jahre", und als er nach Mauritius zurückkehrt, ist er erwachsen geworden. Seiner Familie hat er sich entfremdet, Ouma ist nur noch ein Traum, die Kindheit eine Erinnerung und den Goldschatz von Rodrigues gibt es nicht. Was er auf seiner abenteuerlichen Fahrt gesucht hat, findet er in sich selbst.

Le Morne Cultural Landscape
Le Morne Heritage Trust Fund

Seitdem die UNESCO Le Morne im Jahr 2008 als Kulturlandschaft in die Liste des Weltkulturerbes aufgenommen hat, hat sich die Erinnerung an die Sklavenzeit tiefer in das Bewusstsein vieler Mauritier eingeschrieben. Hier, im Südwesten der Insel, lebten die meisten von ihnen. Robi Verloppe, ein junger Mann, weiß erst seit Kurzem um seine Wurzeln. Er wohnt in Le Morne, dem Dörfchen, das am Fuße des Berges liegt. Mithilfe der UNESCO hat er gelernt, die Ravanne zu spielen. Eine Trommel, in etwa so groß wie ein Tamburin, die in der ursprünglichen Sega-Musik auf Mauritius gespielt wurde. Vermutlich haben die Sklaven die Ravanne aus Afrika mit auf die Insel gebracht.
Robi Verloppe: Die Ravanne erzählt von früher. Unsere Vorfahren spielten auf ihr. Ich stamme unmittelbar von den Sklaven ab, und es ist eine Ehre für mich, die Ravanne zu spielen. Viel hat sich seither geändert. Der Morne ist Weltkulturerbe geworden, darauf bin ich stolz. Seitdem ich klein bin, spielt die ganze Familie auf der Ravanne."

Noch vor wenigen Jahren besaßen die Nachkommen der Sklaven auf Mauritius keine Rechte. Auch der Staat ließ ihnen keine Anerkennung zuteilwerden. Lange wirkte auf Mauritius der Code Noir nach. Die Gesetze, die auf Jean-Baptiste Colbert zurückgehen, hatten in den französischen Kolonien während und nach der Französischen Revolution Bestand. Sie erlaubten den Sklaven keine freie Religionsausübung. Entflohenen Sklaven wurden per Gesetz die Ohren abgeschnitten. Beim dritten Mal wurden sie hingerichtet. Noch lange nach der Unabhängigkeit von Mauritius wurden etwa indisch-stämmige Insulaner zwangsgetauft.
Immerhin ist der Aapravasi Gat, was auf Hindi so viel wie "Einwanderungsgrenze" heißt 2006 von der UNESCO in die Liste des Weltkulturerbes aufgenommen worden. Eine ehemalige Zwischenstation für etwa 450 000 indische Leiharbeiter, die sich auf Mauritius auf den Zuckerrohrplantagen verdingen mussten und die nun, wenn auch nicht komplett erhalten, der Öffentlichkeit zugänglich ist. Selbst das renommierte Blue Penny Museum in Port Louis, das im Jahr 2001 mit Hilfe von privaten Geldgebern gebaut wurde und die Geschichte der Insel nacherzählt, verzichtet vollkommen auf das dunkle Kapitel der Sklaven auf Mauritius.
Museumsmitarbeiter des Blue Penny Museums:"Im Moment meidet man das Thema Sklaverei noch auf Mauritius. Das Kapitel ist hier immer noch ein Tabu. Als das Museum 2001 eröffnet wurde, wurde überhaupt noch nicht über die Sklaverei gesprochen. Das ist schmerzlich. Deshalb versuchen wir gerade, diesen Fehler, der sich auch in unserer Ausstellung widerspiegelt, durch den Ankauf einer Plastik zu beheben. Eine Statue, die das Thema Sklaverei thematisiert und in unsere bestehende Sammlung integriert werden soll."
Auch nachdem Mauritius 1968 unabhängig geworden war, wurde das Thema Sklaverei weiterhin tabuisiert, bis sich die Unzufriedenheit innerhalb der Gesellschaft derart angestaut hatte, dass sie 1999 in einen regelrechten bürgerkriegsähnlichen Aufstand der Bevölkerung mündete: Zum ersten Mal in der Geschichte von Mauritius formierte sich Widerstand, als der rasterlockige Kaya, auch er ein Nachkomme von Sklaven aus Afrika, damals der populärste Sänger in Mauritius, während eines Konzerts auf der Bühne Marihuana rauchte und damit die Legalisierung der Droge propagieren wollte.
Die Regierung griff noch während des Konzerts ein und nahm Kaya in Gewahrsam. Fünf Tage später, am 21. Februar 1999, wurde der Sänger in seiner Zelle tot aufgefunden. Den offiziellen Angaben zufolge starb er durch einen Schädelbruch, den er sich selbst zugefügt haben soll. Die Bevölkerung reagierte auf diese politische Willkür entsetzt. Es kam zu tumultartigen Szenen.
Der mauritische Autor Carl de Souza hatte diesen Ereignissen einen Roman gewidmet: Das junge Mädchen Santee, im weiteren Verlauf auch Shakuntalaa genannt, irrt durch die Wirren der Nacht, sie hat ihren jüngeren Bruder Ram verloren. Auf ihrer Suche nach ihm begegnet sie zwielichtigen Personen, plündert ein Geschäft aus, verliebt sich in Ramesh, der einer anderen Religion als sie selber angehört, und entgeht nur knapp einem Selbstmordversuch. Der Aufstand der Massen entzweit das junge Geschwisterpaar, doch Bruder und Schwester – schon wieder eine Anspielung auf Bernardin de Saint Pierres Roman Paul und Virginie! - bleiben auf der Suche nach sich selbst und dem anderen:
"Er ist der kleine Bruder von niemandem, vor allem nicht von Santee, die völlig den Verstand verloren hat und sich nun im "Dino-Store" amüsiert. Er ist Ram, und selbst darüber ist er sich nicht mehr wirklich sicher. Er ist irgendwie aus einem Käfig herausgekommen, ohne sich darüber aber wirklich bewusst zu sein. Shakuntala sagt dies, Shakuntala sagt das, du sollst dich nicht bewegen, nicht noch einmal abhauen, ohne vorher Bescheid zu sagen. Du wirst dich jetzt ruhig in diesen Sessel hinsetzen. Das ist ja wohl nicht so schwer, oder?"
Aus: Carl de Souza: "Les jours Kaya"
[Übersetzung der Autorin. "Les jours de Kaya" ist bisher auf Deutsch nicht erschienen.]

De Souza ist mit diesem Roman einer der ersten mauritischen Schriftsteller, der die violence cachée, die plötzlich hinter dem friedlichen Bild der Insel zutage getreten war, literarisch thematisierte. De Souza ist damit auch einer der ersten Autoren des Inselarchipels, der an der Dekonstruktion des Paradies-Mythos aktiv beteiligt war.

Seit 1968 gehört der Anbau von Rohrzucker zu einem der wichtigsten Wirtschaftsfaktoren der Insel. Ein mit der Europäischen Union geschlossenes Abkommen sicherte dem Zuckerrohranbau lange Zeit Preise, die bis zu knapp 40 Prozent über dem Weltmarktniveau lagen. Zwischen 2006 und 2015 wird dieses Privileg sukzessive abgebaut. Ein Strukturwandel, der vor allem die ärmere Bevölkerung in eine versteckte Arbeitslosigkeit treibt.
"Die Männer, die an diesem Nachmittag ins Gemeindezentrum des Dorfes gekommen waren, hatten so überzeugend gesprochen. Sie waren ihrer Argumente so sicher, als sie erklärten, dass man an die Zukunft des Zuckerrohranbaus nicht mehr glauben könne aufgrund des Weltmarktpreises, der immer stärker abfalle, dass es also angeraten sei, sich beruflich umzuorientieren. Schon wurden die Zuckerrohrfelder zu Ödland gemacht, selbst die Zuckerrohrfabriken zerstört. Er hätte gerne einige Stücke als Souvenir mitgenommen, damit nicht alles in die Hände dieser Dummköpfe geriete, die noch nicht einmal wüssten, woher diese Erinnerungsstücke überhaupt kommen und wozu sie dienten", heißt es in einer Novelle der mauritischen Schriftstellerin Shenaz Patel: Un monde de douceur, Übersetzung ins Deutsche von der Autorin
Doch noch immer befindet sich auf den meisten kultivierten Flächen auf Mauritius Zuckerrohr.

Dirgil Guerel: "Königin Victoria war nicht besonders hübsch. Es gibt noch Nachdrucke von weiteren Briefmarken, dort ist sie sogar noch hässlicher als auf der roten und blauen Mauritius. Man sagte, ihr Profil auf den Marken gleiche einem Hundegesicht."

Auch bei der Blauen Mauritius ging es also immer wieder um wechselnde Besitzer, um die Umverteilung von Rechten und Begehrlichkeiten. Fast so, wie auf der Insel selber, auf der man bis auf den heutigen Tag mit der Neuordnung einer einst hierarchischen und patriarchischen Gesellschaft beschäftigt ist.
Bislang sind es auf Mauritius fast ausschließlich die Künstler, die sich der Aufgabe stellen, vergrabene Schätze aus verschütteten Schichten zu heben. Der erste Künstler, der eine intensive Tiefenbohrung im Auftrag der Ästhetik und der Wahrheitsfindung unternahm, war auf Mauritius Malcolm de Chazal. Ein Franko-Mauritier, der auf seine weiße europäische Herkunft pfiff und stattdessen nach etwas suchte, was die Mauritier als Inselvolk einen könnte. Das identitätsstiftende und nationengründende Element fand er in der Natur von Mauritius. Chazal gilt heute als ein Universal-Genie. Aus der intensiven Beobachtung und Bewunderung für die mauritische Landschaft entstand eine viele Disziplinen umfassende konstruktive Theorie, eine Art Religionslehre. So heißt es in seinem Buch Petrusmok:
"Das Spirituelle, an dem es den Eliten auf Mauritius mangelt, findet sich um so üppiger in der Natur. Inmitten von schweren Düften aus übernatürlichen Kräutern ist in diesem Land, das den Göttern der Berge und dem Licht verbunden ist, der Glaube an Mythen und Mysterien sehr lebendig. Die Sprache der Schwarzen hat etwas Allegorisches und Symbolhaftes, Illuminiertes, und seine Gebräuche sind unschätzbar. [...] Inmitten der Trennung zwischen einzelnen Rassen, die zu nichts führt, bleibt allein eine Sache bestehen: die kompromisslos mythische Schönheit der Insel. Eine andauernde Erinnerung an eine Ur-Vergangenheit. Überirdische Freuden, die aus den Seen steigen und denen kein einziger Dichter dieser Welt widerstehen könnte. Ein Vorgang einer Transsubstantiation, wie ich ihn hier beschreibe. Alles andere ergibt keinen Sinn. Nur darin zeigt sich die Ewigkeit." Aus: Malcolm de Chazal, Petrusmok