Auf der richtigen Spur

Der Tatort
Der Tatort © Stock.XCHNG / Nate Nolting
26.09.2006
Detective Inspector Vincent glaubt, dass trotz aller Indizien ein vor drei Jahren verschwundenen Mädchen noch am Leben ist. Er geht seinem Verdacht nach und stößt dabei nicht nur auf den erbitterten Widerstand seiner Kollegen. Mit seinem Thriller "Amnesie" erweist sich Michael Robotham als Meister seines Fachs.
Detective Inspector Vincent Ruiz steht vor einem Rätsel, nachdem er knapp vor dem Ertrinken aus der Themse gerettet wurde. Er wurde angeschossen, aber er kann sich weder an den Schuss noch an irgendeines der Ereignisse, die dazu führten, erinnern Das ist umso misslicher als ihn seine Kollegen bei der Polizei nun misstrauisch beäugen und ihn verdächtigen, dass er selber in krumme Dinge verstrickt war. Er muss und er will herausfinden, was ihn in diese Situation gebracht hat und versucht, die letzten Wochen zu rekonstruieren. Dabei wird er von dem Psychologen Joe O’Loughlin unterstützt, der ihm sensibel hilft, Brücken zu seinem verlorenen Gedächtnis zu schlagen.

Offenbar hatte Ruiz Grund, seinem alten Verdacht nachzugehen, dass das vor drei Jahren verschwundene Mädchen Mickey Carlyle, trotz aller damals gefundenen Indizien, noch am Leben ist. Je näher er dem alten Fall kommt, desto ablehnender werden seine Kollegen – sollte Ruiz etwa versuchen, den damals verurteilten Kindsmörder zu rehabilitieren? Das wäre zu peinlich für die Polizei, und so drängen sie ihn immer weiter aus seinem Job, bis er ihn schließlich ganz verliert. Aber Ruiz hält das nicht davon ab, weiterzumachen - jetzt mit Unterstützung von außen; mehrere Anschläge bestätigen ihn in dem Gefühl, dass er auf der richtigen Spur ist.

Robotham hat lange Jahre als Journalist und Ghostwriter gearbeitet. Dann hat er vor drei Jahren mit seinem Debüt "Adrenalin" viel Aufsehen erregt, Preise und viele Ehrenbezeichnungen erhalten. Mit seinem zweiten Thriller erweist er sich nun wirklich als Meister seines Fachs. Erstaunlicherweise sagt er von sich selber, dass er zuvor nur wenige Krimis und Thriller selber gelesen habe.
Das verlorene Gedächtnis ist ein beliebtes Element für Thriller, ebenso der desillusionierte Polizist, der gegen alle Widerstände seine Spur verfolgt. Aber im Genre ist fast alles schon da gewesen, es lebt geradezu von Klischees. Deshalb kommt es weniger darauf an, Klischees zu vermeiden, als diese glaubwürdig und packend neu zu nutzen. Das ist es eben, was Robotham gelingt. Die zunehmende Außenseiterposition von Ruiz entwickelt sich glaubwürdig, und nie hat man den Eindruck, hier solle mal wieder ein einsamer Cowboy als Held konstruiert werden. Es gibt einige verblüffende Herausforderungen an die ohnehin angeschlagene Fitness von Ruiz, aber es leuchtet auch ein, warum er sie wagt und besteht.

Vielleicht kommt die Überzeugungskraft seines Buchs auch daher, dass in Robothams Personal mit großer Selbstverständlichkeit Menschen mit Schwächen und Behinderungen auftauchen. Es erfordert große handwerkliche Kunst, daraus eine glaubwürdige Geschichte zu konstruieren. Denn schließlich muss der Held dennoch eine Reihe von Abenteuern bestehen. Robotham, der sehr elegant schreibt und mit Kristian Lutze einen adäquaten Übersetzer gefunden hat, löst das Problem, indem er die Action-Szenen knapp dosiert, so dass man sich nie fragen muss, wie dem lädierten Ruiz dies alles gelingt. Das war ein Punkt, der Robothams Erfolg mit seinem Erstling "Adrenalin" sicher befördert hatte. Dort war Joe O’Loughlin – in "Amnesie" lediglich Helfer für Ruiz – der Held, der sich zunächst dem Erschrecken über seine ungewöhnlich frühe Parkinson-Erkrankung stellen und sich dann eines falschen Verdachts erwehren muss. Das wurde für O’Loughlin eine psychische ebenso wie eine physische Herausforderung, so wie diesmal Ruiz, obwohl schon lange im Polizeidienst, auch schwer daran zu knacken hat, dass er aus dem langjährigen Kollegenkreis hinaus geworfen wird.

Michael Robotham: Amnesie
Deutsch von Kristian Lutze
Goldmann Verlag
448 Seiten, 19,95 Euro