Auf der Nachtseite von Paris

25.03.2013
Albertine Sarrazins Kultroman der 60er-Jahre erscheint in einer deutschen Neuübersetzung. Er handelt von einer Flucht aus dem Gefängnis, dem Neubeginn im düsteren Paris der 60er-Jahre - und einer unbedingten Liebe.
Das Leben spielt Anne einen üblen Scherz: Da ist sie aus dem Gefängnis geflohen, von der Mauer in die Freiheit gesprungen – und bricht sich bei der Landung das Sprungbein, lateinisch "Astragalus". Die "gebrochene Haxe" macht sie nun wiederum zur Gefangenen, die das Bett hüten muss und auf andere angewiesen ist: "Meine neue Freiheit hält mich gefangen und lähmt mich."

Angewiesen vor allem auf ihren Retter, Julien, der sie am Straßenrand aufgesammelt hat und den sie sofort "erkannt" hat: Auch er ist ein Kleinkrimineller, hat Knast-Erfahrung; mit seinen Einbrüchen finanziert er nun auch Annes Genesung. Er bringt sie bei seiner Schwester im Kinderzimmer unter, bei einem zwielichtigen Wirt im Gästezimmer, bei einer früheren Prostituierten, und er zahlt ihr die Knöchel-Operation.

Anne und Julien sind nicht nur Schicksalsverwandte, sie verlieben sich auch ineinander. Anne ist das Warten gewöhnt: Im Gefängnis wartete sie auf das Verstreichen der Tage. Doch nun sehnt sie sich nach dem Geliebten und erträgt das Warten kaum. In Annes heißer Sehnsucht nach dem Abwesenden, in dem "aufreibenden Drama des Wartens", hat sich Patti Smith wiedererkannt, die "Astragalus" kurz nach dem frühen Tod Albertine Sarrazins 1967 las. Die Punk-Poetin hat zur deutschen Neuübersetzung ein sehr emphatisches Nachwort beigesteuert, in dem sie Albertine Sarrazin ihre "Leitfigur" nennt.

Annes Instinkt sagt ihr, dass sie Julien nur halten kann, wenn sie – im Wortsinne – schnell wieder auf eigenen Beinen steht. Und so geht sie humpelnd auf den Strich: "Paris, ich bin wieder da, ein Trümmerhaufen, aber ich fange wieder an zu leben und zu kämpfen." Erst jetzt beginnt ihr Ausbrecherinnen-Leben richtig, denn jeder Freier ist eine Gefahr. In ihrer Wachsamkeit sieht sie die Stadt um sich herum, das Paris der 1960er-Jahre, mit geschärften Sinnen. Sie durchschaut die Menschen bis ins Innerste wie mit einem Röntgenblick – Menschen auf der Nachtseite von Paris, Prostituierte, Zuhälter, Kneipiers, einsame Geschäftsleute.

Albertine Sarrazin wurde 1937 in Algier geboren, weggegeben, adoptiert, mit zehn Jahren von einem Verwandten der Adoptiveltern vergewaltigt. Sie steckten das Mädchen in eine Erziehungsanstalt, aus der sie floh, in Paris auf den Strich ging und mit 17 wegen eines Raubüberfalls zum ersten Mal ins Gefängnis kam. Von der Flucht und der Liebe zu ihrem Retter erzählt Sarrazin in "Astragalus", ihr Leben davor hat sie in den Romanen "Kindheit" und "Stufen" verarbeitet.

Ein schweres Leben, sicher, aber "Astragalus" ist kein schweres Buch. Das liegt an der Unbedingtheit von Annes Liebe, an ihrem Lebenswillen, an Sarrazins zugleich poetischem und schnodderigem Tonfall (den Claudia Steinitz mit Geschick und Schwung übersetzt hat), an der Selbstironie der Erzählerin. Ihre Schmerzen im Fuß beschreibt sie wie ein gigantisches Naturphänomen, und ihre missliche Lage entlockt ihr galligen Witz: "Ich war irgendwann vor Ostern abgehauen, aber nichts erstand auf, nichts starb, nichts lebte." Das Delinquenten-Milieu im Paris der 60er ist ein wenig fremd, aber Sarrazin überbrückt die Distanz, indem sie das allgemein Menschliche betont: Der Wirt ist windig, die Ex-Nutte betrügt schlecht, und Annes Kunde Jean hat ein Herz wie ein Scheunentor. So dringlich wie der Tonfall des Romans, so dringend nötig war, ihn jetzt wieder fürs deutsche Publikum verfügbar zu machen.

Besprochen von Dina Netz

Albertine Sarrazin: "Astragalus"
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
Verlag Hanser Berlin, Berlin 2013
232 Seiten, 19,90 Euro