Auf dem Weg zu einer empathischen Zivilisation

Jeremy Rifkin im Gespräch mit Joachim Scholl · 15.02.2010
Der US-Soziologe Jeremy Rifkin erkennt ein wachsendes Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschheit. Gezeigt hätten dies unter anderem die Reaktionen nach dem Erdbeben in Haiti, sagte Rifkin.
Joachim Scholl: Jeremy Rifkin ist ein gefragter Mann in politischen ebenso wie in Wirtschaftskreisen. Der Soziologe und Ökonom, Jahrgang 1943, berät Regierungen, die Europäische Union und viele Unternehmen. Er zählt zu den bekanntesten gesellschaftspolitischen Vordenkern.

In zahlreichen Büchern hat er über Komplexe wie die Arbeitswelt, die Biotechnologie, das Eigentum nachgedacht. Und in seinem jüngsten Werk erzählt er gleich die ganze Weltgeschichte neu – und zwar nicht als eine Abfolge von Kriegen, Grausamkeiten und Krisen, sondern unter dem Aspekt der Empathie, der Einfühlung.

Eigentlich, sagt Jeremy Rifkin, sind wir Menschen uns grundsätzlich einander zugetan, und so könnte, sollte endlich eine empathische Zivilisation entstehen. Genauso heißt Jeremy Rifkins neues Buch, das jetzt auch in deutscher Übersetzung erschienen ist. Wir haben den Autor getroffen, und ich habe ihn eingangs unseres Gespräches gefragt, ob denn so ein Beispiel für diese empathische Zivilisation vielleicht die große weltweite Hilfsbereitschaft für das erdbebenverwüstete Haiti war.

Jeremy Rifkin: Ganz sicher. Bereits eine halbe Stunde nach dem Erdbeben tauchten die ersten Nachrichten auf Twitter, auf YouTube auf, und innerhalb weniger Stunden hatte sich der ganze Erdball ins Bild gesetzt und zeigte diese Einfühlung, als ob die ganze Erde sozusagen eine Familie wäre. Das ist ein gutes Beispiel für das, was ich die Zivilisation der Empathie nenne. Dennoch stellen sich da noch Probleme.

Einerseits haben wir ein wachsendes Bewusstsein dafür, dass wir alle zusammengehören, dass wir eine Biosphäre bilden, dass unsere Mitgeschöpfe sozusagen Teil unserer Großfamilie sind. Auf der anderen Seite sehen wir das verstärkte Aufkommen von Massenvernichtungswaffen, mehr Fremdenfeindlichkeit, und der Klimawandel steht vor der Tür, er könnte sogar das Überleben der Menschengattung gefährden.

Scholl: Lassen Sie uns noch ein wenig bei diesem Beispiel bleiben, Herr Rifkin. Ist das wirklich Einfühlung, Empathie, Mitleiden teilen? Für die meisten Menschen ist Haiti weit weg, und wenn das Thema einmal aus den Medien verschwunden ist, werden wir nicht mehr viel über die Haitianer nachdenken, oder doch?

Rifkin: Ich glaube, dass unterschiedliche Menschen zu unterschiedlichen Zeitpunkten auch unterschiedlich darauf reagieren. Jeder verspürte diese erste große Sensation, viele haben Hilfe geleistet, einige werden auch dauerhaft in Haiti bleiben, aber wir können nicht erwarten, dass alle Menschen sich jetzt immer nur um Haiti kümmern.

Unsere Empathiereserven müssen sozusagen besser verteilt werden. Lassen Sie mich aber erklären, was dieses komplizierte Gefühl Empathie eigentlich ist. Wir haben in der Vergangenheit uns an eine bestimmte Menschensicht gewöhnt, über 1500 Jahre haben die Kirchen ganz klar verkündet: Du wirst als Mensch in Sünde geboren und du erlangst dein Heil im Jenseits. Dann kamen die Denker der Aufklärung: John Locke, Adam Smith, Descartes vertraten die Auffassung, dass der Mensch mit einem angeborenen Drang zur Selbstständigkeit geboren sei und dass er dann letztlich alles seinem Eigennutz unterordne, das sei das Entscheidende.

Darwin vertrat die Auffassung, dass jedes Lebewesen vor allem mit dem Überleben der eigenen Art befasst sei. Freud wiederum behauptete, dass Babys mit einem unstillbaren Sexualtrieb geboren werden und dass sie letztlich immer diese Triebbefriedigung suchten.

Ich frage nun die Eltern, die uns zuhören: Sehen Sie Ihre kleinen Kinder als unersättliche Sexmonster, die ständig nach Befriedigung ihrer Triebe gieren? Also ich bitte Sie, so kann man das doch nicht sehen. Wie sollten wir denn sonst auch das Zusammenleben von 6,8 Milliarden Menschen auf dieser Erde gestalten, wenn jeder nur seinen eigenen Interessen nachginge? Wie wollten wir denn einen nachhaltigen, gerechten und aufrecht erhaltbaren Wirtschaftskreislauf schaffen, wenn 6,8 Milliarden Cowboys nur ihren eigenen Zwecken nachjagen?

Scholl: Nun haben Sie etliche wichtige Denker schon genannt, ich hätte noch einen, Herr Rifkin: hominem homini lupus – der Mensch ist des anderen Wolf. Diese Maxime hat der Philosoph Thomas Hobbes aufgestellt und damit eine rigide autoritäre Staatsphilosophie begründet, das war im 17. Jahrhundert, fürwahr keine friedliche Epoche.

Sie, Jeremy Rifkin, beschreiben nun das genaue Gegenteil, auch als Vision für die Zukunft. Aber unser vergangenes 20. Jahrhundert ist ja der Triumph der Metzelei: Erster, Zweiter Weltkrieg, Auschwitz, Vietnam, Ruanda, Irak, Darfur. Sind wir nicht noch immer Wolfsnaturen?

Rifkin: Was Sie da gerade aufgezählt haben, das sind die krankhaften Abirrungen in der Menschheitsgeschichte. Wenn es immer nur um Völkermord, Holocaust und Ähnliches ginge, dann hätte es die Menschheit schon seit längerer Zeit nicht mehr gegeben. Wenn es möglich ist, dass wir Empathie zunächst gegenüber unseren Blutsverwandten empfinden, dann gegenüber der religiösen Gemeinde, dann gegenüber der Nation, ist es dann wirklich ausgeschlossen, dass wir dieses Gefühl auch weltweit umspannend ausdehnen, dass es auch zu einem Bewusstsein von der Biosphäre führt, dass wir alle eine große Menschheitsfamilie sind und dass wir letztlich dann uns als Teil einer umfassenden Biosphäre sehen?

Scholl: Jeremy Rifkin, der amerikanische Soziologe und Ökonom im Gespräch mit Deutschlandradio Kultur. Dieser Zusammenhang, Herr Rifkin, ist auch der große Widerspruch, den Sie beschreiben. Wir stehen vor einer ökologisch-ökonomischen Zeitenwende – mit dem Ende des fossilen Zeitalters, dem Ende des Erdöls kommt eben dieser Widerspruch zustande, dass die globale Empathie auf dem Wohlstand aller beruhen sollte, den wir allerdings mit den Ressourcen verschwenden, auf die jener Wohlstand gründet. Wie lässt sich denn dieser Widerspruch auflösen?

Rifkin: Ich glaube, wir stehen an der Schwelle zu einer großen Konvergenz im Bereich Energie, die in Einklang steht mit der Konvergenz des Bewusstseins. Wir haben vor zehn Jahren eine große Revolution im Bereich der digitalen Welt erlebt, dank des PC, dank des Internet. Und wir wollen dasselbe mit der Energie, diese dezentral verteilte Energie bewirken. Dezentral nicht zentral gesteuert wie im Kino, Radio oder Fernsehen, sondern so, wie man heute bereits Video, Audio und Textbotschaften gleichzeitig überall hin absetzen kann, so wird es eben auch eine Netzwerkstruktur im Bereich Energie geben, welche auch zu einer Netzwerkstruktur im Bereich des Wissens, des Bewusstseins führt.

Ich hatte die Ehre, als Berater des Europäischen Parlaments aufzutreten. Wir haben im Jahr 2007 beschlossen – und ich glaube, jeder unter 35 Jahren wird das begreifen –, dass 20 Prozent der Energie durch solche dezentrale Erzeugung erzeugt werden soll und dass innerhalb von 30 Jahren alle Gebäude mit solchen selbst erzeugenden Energieanlagen ausgestattet werden sollen.

Sonnenenergie, Windenergie, Erdwärme, Energie aus Abfällen – das ist überall verfügbar, und das soll dann in Wasserstoffspeichern gespeichert werden und jederzeit dezentral verteilbar und abrufbar sein. Wir werden in einem weiteren Schritt dann vergleichbar dem Internet die Stromnetze in Deutschland und anderen Ländern der Europäischen Union zu einem großen Netz der Netze ausbauen, wo mithilfe der im Wasserstoff gespeicherten Energie Strom dann jederzeit hin überall verteilt werden kann.

Diese vollständige dezentrale verteilte Energie wird dann dazu führen, dass wir ähnlich, wie wir heute uns in der Blogosphäre schon vernetzt haben, dann zu einer Vernetzung in der Biosphäre kommen – über diese dezentrale Energie. Das wird dazu führen, dass wir dann nicht mehr von Geopolitik sprechen, sondern von einer Biosphären-Politik. Und dieses neue Paradigma wird das Leben der jungen Generation prägen.

Scholl: Das, was Sie eben beschrieben haben, könnte, das neue biosphärische Bewusstsein bilden, wie Sie es nennen – wie stehen denn die Chancen, dass es sich in absehbarer Zeit formiert?

Rifkin: Ich glaube, wir sind in einer Art Wettlauf begriffen zwischen der Schaffung dieses Biosphären-Bewusstseins, der Schaffung der empathischen Zivilisation einerseits und der Drohung des Klimawandels und der Zerstörung durch die Massenvernichtungswaffen andererseits. Wir haben sozusagen den Zipfel in der Hand, wir wissen, wir können es schaffen, es ist am Horizont sichtbar, es ist sozusagen eine gestundete Zeit, die uns gegeben ist.

Und die Botschaft meines Buches ist es eben: Ja, es gibt einerseits diese krankhaften Verirrungen, diese Rückschläge in der Menschheitsgeschichte, aber wir haben es in der Hand, dieses globale empathische Bewusstsein für die Biosphäre jetzt zu schaffen. Es ist eine sehr herausfordernde Aufgabe, aber ich bin gemäßigt zuversichtlich, sagen wir mal so, ich bin nicht pessimistisch.

Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Sie erinnern sich vielleicht an dieses Video auf YouTube, wo eine Eisbärin mit ihrem Jungen auf einer Eisscholle um das Überleben kämpft und immer wieder abzugleiten droht ins Wasser. Das ist ein Zeichen für den Klimawandel, und hier konnte man dann diese Mitempfindung, die Empathie für das Schicksal dieses Mitgeschöpfes nachvollziehen. Das war ein erstes Beispiel für das, was ich damit meine.

Wir sind sozusagen am Anfang einer großen Reise, diese Reise, die auch die dritte industrielle Revolution mit sich bringen wird, und wir werden jetzt 30 oder 40 Jahre Zeit haben, um zu sehen, ob es gelingt. Wie wird die Menschengattung sich weiterentwickeln, sind wir wirklich so selbstsüchtig-aggressiv, nur auf den eigenen Vorteil bedacht, wie man das bisher gemeinhin annahm? Ich glaube es eben nicht, und ich glaube, dass wir eine Chance haben, etwas Besseres, etwas anderes zu schaffen.

Scholl: Der Soziologe und Ökonom Jeremy Rifkin. Er war bei uns zu Besuch. Sein Buch "Die empathische Zivilisation - Wege zu einem globalen Bewusstsein" ist jetzt auf Deutsch im Campus-Verlag erschienen, 468 Seiten zum Preis von 26,90 Euro.
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