"Auf dem Rücken der Patienten"

Rezensiert von Kim Kindermann · 25.04.2005
Kopfpauschale, Bürgerversicherung, Gesundheitsprämie - Das Gesundheitssystem steht vor dem Zusammenbruch und dennoch gelingt keine Einigung zwischen den Politikern, um tief greifende Reformen durchzuführen. In ihrer messerscharfen Analyse rechnen die Journalistinnen Ulrike Hinrichs und Dana Novak mit den Verantwortlichen ab und zeigen: Reformen scheitern immer zu Lasten der Versicherten. "Auf dem Rücken der Patienten. Selbstbedienungsladen Gesundheitssystem" so der Titel ihres Buches.
Schon auf der ersten Seite wird klar: Das deutsche Gesundheitssystem ist eine Dunkelkammer, in der jeder unerkannt dem Patienten in die Tasche greifen kann:

" Für Hans P. ist es ein Routinegang: Heute muss er mit seiner Tochter zum Zahnarzt. "

Hans P. erlebt eine Überraschung. Nicht nur das seine Tochter eine Spange braucht, sondern auch das der Arzt ihm plötzlich eine private Bezahlung dieser Zahnspange ans Herz legt.

"Der Arzt legt Hans P. zunächst unterschriftsreife Unterlagen vor, um ihn unter Druck zu setzen. Zudem teilt er mit, er wisse nicht, ob die Behandlung ohne sofortige Unterschrift überhaupt noch durchgeführt werden könne, vielleicht müsse die Tochter unter diesen Umständen ganz auf ihre Zahnspange verzichten. "

Willkommen in der Wirklichkeit des deutschen Gesundheitssystems, Deutschlands Selbstbedienungsladen Nummer 1, wo interessengeleitete Ärzte Patienten falsch informieren, um an deren Geld zu kommen. Wo angeschlagene Krankenhäuser die Kassen mit knapp 45 Milliarden Euro jährlich belasten und so indirekt ins Portemonnaie der Patienten greifen. Wo Pharmabetriebe durch Lobbyarbeit eine Senkung der Arzneimittelkosten regelmäßig verhindern und wo bürokratisch-aufgeblasene Krankenkassen selbst krank sind, hohe Schulden haben und nur durch Beitragssatzerhöhungen oder krumme Kreditgeschäfte dem Konkurs entgehen. All das legen Ulrike Hinrichs und Dana Novak ausführlich dar. Sie geben wichtige Hintergrundinformationen und zeigen: Auch die Politiker sind oft machtlos! Denn kaum ein ausländisches System ist ähnlich kompliziert aufgebaut wie das deutsche und - auch das einmalig - die daran Beteiligten verwalten sich selbst. Dem Missbrauch sind also Tür und Tor geöffnet, wie die Autorinnen durch zahlreiche Fallbeispiele eindrucksvoll belegen. Zweieinhalb Jahre haben die Journalistinnen, die für das ZDF-Politmagazin Frontal 21 arbeiten, nach allen Seiten recherchiert.

Herausgekommen ist so eine knallharte, gnadenlose Abrechnung mit allen am Missbrauch Beteiligten. Schonungslos legen die Autorinnen Fakten offen und zeigen, dass jede Reform immer zur reinen Notoperation verkommen muss, wenn stets nur an der Einnahmeseite geschraubt wird, anstatt das System strukturell zu entrümpeln.

"Jürgen R. ist chronisch krank, er leidet an Rheuma.
Vor allem für seine Medikamente muss er heute kräftig zuzahlen, doppelt so viel wie früher. "

Doch Ulrike Hinrichs und Dana Novak beschreiben nicht nur Defizite, sie suchen auch Antworten bei den Verantwortlichen. Und genau das ist die Stärke des Buches. In jedem Abschnitt kommen Experten wie etwa der ehemalige Gesundheitsminister Horst Seehofer oder der Regierungsberater Professor Karl Lauterbach ausführlich zu Wort. Sie schildern, wie trickreich geschummelt wird, wie etwa Lobbyisten vorgehen, wo sie ansetzten und vor allem bei wem sie ansetzen. Aufschlussreiche Insiderinformationen einer sonst undurchschaubar wirkenden Politiklandschaft sind das Ergebnis. Wenngleich man auch keine unerwarteten Enthüllungen zu lesen bekommt. Trotzdem: Die Befragten nehmen kein Blatt vor den Mund und sprechen offen - und wie es scheint ehrlich - über bestehende Praktiken.
Karl Lauterbach:

"Die Verbände, die kassenärztlich Vereinigung, die Krankenkassenverbände oder die Krankenhausgesellschaft verwässern schon Gesetze zu dem Zeitpunkt, wo sie gemacht werden und verhindern nachher die konsequente Umsetzung der Gesetze so gut sie können. "
Das Buch wird noch deutlicher:

"Nicht besonders Kluge gehen sogar so weit, dass man als Minister einen Scheck zugeleitet bekommt, in der dumpfen Erwartung man würde ihn annehmen. Lobbyisten arbeiten mit Zuckerbrot und Peitsche. Sie können den Wahlkampf eines Politikers unterstützen, oder sie unterstützen den Wahlkampf des Gegenkandidaten. "

Das Gesundheitssystem scheint wohl doch nur ein Bedienungsladen für die Pfiffigen zu sein. Als Leser und Patient fühlt man sich diesem Misstand schutzlos ausgeliefert. Man ist verunsichert. Zunächst. Doch je länger an liest, umso deutlicher wird: Nichts ist schlimmer als falsche Sicherheit. Das Buch setzt somit am richtigen Hebel an: Es beschreibt den desolaten Ist-Zustand ausführlich, aber es bietet auch Wege aus der Misere. In einem 10-Punkte-Katalog fordern die Autorinnen den Abbau von Bürokratisierung, sie fordern Transparenz, Wettbewerb und Wahlfreiheit und ganz gezielt fordert sie auch den Leser selbst heraus: Ulrike Hinrichs:

"Erstens mündiger werden, dass also jeder weiß, was in diesem Gesundheitswesen los ist, warum das eine Dunkelkammer ist. Zweitens soll er Hilfestellung bekommen, wie er sich verhalten kann, wenn er das Gefühl hat, dass er übern Tisch gezogen wurde. Da gibt es viele Möglichkeiten, wenn man ein bisschen mehr weiß, dass man sich wehren kann. "

Das Buch "Auf dem Rücken der Patienten" ist ein kleines Meisterstück. Gut leserlich und flott geschrieben, macht das 180-seitige Buch mehr als deutlich: Jeder ist gefragt. Denn nur der mündige Patient - der den Ist-Zustand kennt - kann selbstbewusst aufzutreten, das Recht auf Mitsprache einfordern und Licht ins Dunkle bringen. Und das macht das Buch im Grunde zur Pflichtlektüre für jeden von uns.