"Auf beiden Seiten stehen, das kann man nicht"

Von Arno Orzessek · 31.12.2010
Das vergangene Jahr hatte viele kulturelle Höhe- und Tiefpunkte. Die Debatten über Sarrazins Thesen, den katholischen Missbrauchsskandal, Literaturplagiat und Vuvuzelaklänge wurden engagiert geführt, mit einem großen Ziel: Stellung beziehen!
Was man hier hört, ist nicht der "Bolero" von Maurice Ravel. Es ist sind Vuvuzelas. Dass man Vuvuzelas beim "Bolero" aber durchaus gut gebrauchen kann, das haben im Sommer – Fußballweltmeisterschafts-nah – die Berliner Philharmoniker bewiesen.

Womit der Streit um den Status des länglichen afrikanischen Lärmtrichters quasi höchstrichterlich geklärt war: Ja, das Ding gehört in den Instrumentenkoffer der Musikgeschichte. Auch der Musikethnologe Andreas Wellmann sah das so:

"Die Vuvuzela ist sozusagen eine ventil- oder zuglose Fanfare. Ein trainierter Spieler kommt in die Oberton-Bereiche der Vuvuzela. Und in dem Moment kann es zum Instrument werden, weil ich es kontrolliert blasen kann."

Umstritten blieb monatelang, ob Thilo Sarrazin die richtigen Töne getroffen hatte, als er seine politische Fanfare blies - unterlegt vom Text "Deutschland schafft sich ab!", in dem die rasche Überfremdung dieses Landes durch integrationsunwillige, transferleistungssüchtige Araber, Anatolier und sonstige Kopftuchmädchenproduzenten prophezeit wird.

"Der Faktenteil meines Buches und die sachliche Argumentation mag von mir aus hart sein, sie ist aber absolut präzise. Und nirgendwo verlässt eine einzige Formulierung die durch den guten Geschmack gezogene Grenze","

behauptete Sarrazin. Ein Teil des Publikums und der Islam-kritischen Necla-Kelek-Presse applaudierte begeistert. Der andere Teil fand Sarrazin und sein Werk etwas einseitig -

Thilo Sarrazin: ""Integration ist eine Bringschuld von Migranten."

- und zweifelte an der biogenetischen Expertise des Finanzfachmanns Sarrazin, dessen unstrittiges Verdienst es ist, die Integrationsdebatte aus den grauen Niederungen der Sachlichkeit befreit zu haben, schrieb munter von einem "jüdischen Gen" und verbreitete auch ansonsten manch Erstaunliches.

Thilo Sarrazin: "Da Bildung zu 50 bis 70 Prozent Prozent erblich ist ... "

Ja, wirklich, das sagte Sarrazin:

"Da Bildung zu 50 bis 70 Prozent Prozent erblich ist ... "

Nicht allzu viel Bildung kann der Autor und Theatermacher Carl Hegemann seiner Tochter vererbt haben. Helene jedenfalls bekannte, soeben berühmt geworden, das Material zu ihrem Roman "Axolotl Roadkill" überwiegend nicht in sich selbst gefunden zu haben:

"Ich habe ja grundsätzlich alles von irgendwo genommen. Also beispielsweise aus meinem Umfeld, aus Zeitschriften, aus Büchern, von anderen Autoren. Also, ich klaue einfach hauptsächlich, wenn ich nicht mehr weiterkomme und denke, es ist notwendig, so etwas zusammenzusetzen, was man erzählen will. Deswegen klaue ich natürlich auch von mir."

Zunächst wurde Helene H. für ihren Drogen-, Party- und Verzweiflungsschmöker, der bei Ullstein erschien, groß gefeiert. Man fand ihre These "Es gibt keine Originalität, nur Echtheit" genauso interessant, wie ihre Verachtung für die "Urheberrechtsexzesse der Nuller Jahre". Als dann Hegemanns furchtlose Buchstaben-Kleptomanie ruchbar wurde, ging mancher auf Distanz – so auch der Plagiatsexperte Phillip Theison:

"Wenn es diesen Urheberrechtsexzess nicht gäbe, dann gäbe es auch keinen Ullstein Verlag, dann gäbe es keinen Literaturbetrieb, der sie als Autorin feiert, ausstellt. Insofern ist die Frage, wollen wir eine literarische Kultur haben, die Autoren kennt, Werke kennt, Verdienste kennt, Originalität kennt, oder wollen wir eine neue Literatur, die über Hypertext funktioniert, und dann muss man sich entscheiden. Aber auf beiden Seiten stehen, kann man eben nicht."

Auf beiden Seiten gleichzeitig stehen zu wollen, führt zum Verfall der Glaubwürdigkeit ... weshalb die katholische Kirche riesige Probleme bekam. Ihre Priester predigen göttliche Liebe, haben aber Knaben eher massenhaft als in Einzelfällen sexuell missbraucht.

"Die, die das Schweigen brechen, das sind die wirklichen Aufklärer ... . Sie können davon ausgehen, dass eine unglaublich hohe Zahl weiterhin schweigt. Denn sie können nicht reden. Sie kriegen das nicht über die Lippen zu sagen: Ich wurde sexuell missbraucht","

erklärte Norbert Denef, einst missbrauchter Ministrant der katholischen Kirche. Er hatte 36 Jahre geschwiegen – und dann ein Jahr lang vor dem Spiegel geübt, diesen Satz zu sagen: "Ich wurde sexuell missbraucht."

Die Kirche muckste und druckste herum. Bischof Walter Mixa räumte den Hauptpreis für Ignoranz und Borniertheit ab. Unterdessen stellte sich der Missbrauch als globales Problem des Katholizismus heraus.

Papst Benedikt XVI. sah sich – auch mit Blick auf das Schindludertreiben in Irland – zum Abfassen eines Hirtenbriefs genötigt:

"" Wie Ihr wisst, ist die Kirche in Irland in den vergangenen Monaten heftig erschüttert worden als Ergebnis der Krise um den Missbrauch von Kindern."

Nahezu einstimmig gelobt für ihre seelische Krisenreaktionskraft wurde hingegen Margot Käßmann. Als Bischöfin und Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland war sie ordentlich angeschickert über Rot gefahren – und legte, kaum ausgenüchtert, ihre Ämter nieder:

"Die Freiheit, ethische und politische Herausforderungen zu benennen und zu beurteilen, hätte ich in Zukunft nicht mehr so, wie ich sie hatte. Und die harsche Kritik etwa an einem Predigtzitat wie 'Nichts ist gut in Afghanistan' ist nur durchzuhalten, wenn persönliche Überzeugungskraft uneingeschränkt anerkannt wird."

Wie übel es im Afghanistan- und im Irakkrieg zuging, das enthüllte WikiLeaks in grausigen Details – Folterungen mit Säure, Elektroschocks, Fingerabschneiden, Zigaretten-Ausbrennen, all dieses inklusive. Julian Assange, der Initiator der Internet-Plattform, gewann schnell Weltformat.

Julian Assange: "Wir hoffen einige der Anschläge auf die Wahrheit zu korrigieren."

Die letzten WikiLeaks-Enthüllungen des Jahres – offenherzige Depeschen von US-Diplomaten – sahen viele so kritisch wie Hans Leyendecker von der "Süddeutschen Zeitung":

"Welche Wahrheit kommt hier ans Licht? Dass Amerika ein Land mit eigenen Interessen ist, das habe ich vorher gewusst. Dass Amerika nicht will, dass der Iran über Atomwaffen verfügt, das habe ich vorher gewusst. Viele dieser Dinge war nicht nur in Umrissen, sondern im Detail bekannt. Mir ist auch das Motiv nicht ganz klar. Es sei denn, es ist plumper Antiamerikanismus."

Der Nobelpreis für Literatur ging an Mario Vargas Llosa, und die meisten fanden das prima – anders dagegen die Rede des peruanisch-spanischen Schriftstellers bei der Preis-Verleihung. Vorgehalten wurde ihm der rege Gebrauch von Klischees und schrägen Bildern.

Mario Vargas Llosa: "Auch wenn es mich viel Arbeit und Schweiß gekostet hat, hat mir nichts im Leben so viel Genuss verschafft wie Monate oder Jahre mit der Schaffung einer Geschichte zuzubringen. Dass ist eine Erfahrung, die mich erfüllt und taumeln lässt wie ein über Tage, Wochen und Monate andauernder Liebesakt mit der geliebten Frau."

Gerade die Männer unter den Kommentatoren haben Mario Vargas Llosa dieses Bild nicht durchgehen lassen. – Und damit zurück zur unüberhörbaren Botschaft des Konzert-Instruments Vuvuzela.

Der Musikethnologe Andreas Wellmann formulierte sie so:

"Ich muss sagen, es ist höllisch schwer, an der richtigen Stelle den richtigen Ton zu liefern."