"Auf beiden Seiten immer noch klischeehafte Vorstellungen"

Matthias Waechter im Gespräch Dieter Kassel · 22.02.2012
Die immer ähnlicheren Probleme in beiden Nachbarländern würden sehr verschieden angegangen, sagt der Historiker Matthias Waechter: Dabei könnten die Franzosen von der deutschen Konsensfähigkeit lernen, und hierzulande die französische Familienpolitik Schule machen.
Dieter Kassel: Wenn man Angela Merkel und Nicolas Sarkozy bei ihren gemeinsamen Auftritten beobachtet – und dazu gab es ja in letzter Zeit reichlich Gelegenheit –, dann hat man den Eindruck, das deutsch-französische Verhältnis sei besser denn je zuvor. Schaut man sich aber ein knappes halbes Jahrhundert nach der Unterzeichnung des Élysée-Vertrags die Ergebnisse aktueller Meinungsumfragen an, dann ergibt sich ein anderes Bild. Das Fazit gleich zweier Umfragen lautet: Die Franzosen interessieren sich wenig für Deutschland, und die Deutschen interessieren sich noch ein bisschen weniger für Frankreich.

Über das tatsächliche Verhältnis der beiden Länder weit unterhalb der Ebene der Regierungschefs wollen wir deshalb jetzt mit Matthias Waechter reden. Der deutsche Historiker lebt seit elf Jahren in Frankreich, lehrt dort am Institut Européen des Hautes Études Internationales und in Deutschland an der Universität Freiburg. Schönen guten Tag, Herr Waechter!

Matthias Waechter: Guten Tag!

Kassel: Ein weiteres Ergebnis dieser grade erwähnten Meinungsumfragen lautet auch, sowohl das Interesse am jeweils anderen Land, auch das positive Bild des anderen Landes, ist größer, je älter die Befragten sind. Anders ausgedrückt, die Generation 50 plus interessiert sich noch ein bisschen mehr für den Nachbarn als die Jüngeren. Wie erklären Sie sich das?

Waechter: Das erscheint mir geradezu naheliegend. Gerade für die ältere Generation war ja die deutsch-französische Annäherung nach dem Zweiten Weltkrieg eine ganz sensationelle Erfahrung, eine direkt erlebte Erfahrung, die auch für viele Angehörige dieser Generation sehr erleichternd war, dass es zwischen Deutschland und Frankreich eine Annäherung gab, dass man davon ausgehen konnte, dass es keinen Krieg mehr zwischen den beiden Nationen geben würde.

Insofern ist es für diese Generationen eine sehr intensiv erfahrene Angelegenheit, während für die jüngeren Menschen heute das etwas Erworbenes ist. Es ist sozusagen selbstverständlich, dass es zwischen Deutschland und Frankreich friedlich zugeht, insofern spürt man wohl auch nicht so stark die Notwendigkeit, sich für das Nachbarland zu interessieren.

Kassel: Na ja, Deutschland und Frankreich sind auch gar nicht so unterschiedlich inzwischen. Kann man das sagen, gerade auch, was das politische System angeht? Da scheinen mir die Unterschiede doch immer noch recht groß zu sein.

Waechter: Da müsste man auf verschiedenen Ebenen ansetzen. Die politischen Systeme sind in der Tat sehr unterschiedlich, insofern als wir es in Frankreich mit einem nach wie vor sehr zentralisierten System zu tun haben, in Deutschland mit einem föderalen. Die Rolle des Staatspräsidenten in Frankreich ist völlig anders als die des Bundeskanzlers in der Bundesrepublik, die politischen Kulturen sind auch nach wie vor sehr unterschiedlich. Was ähnlich geworden ist, sind die Probleme, mit denen wir zu tun haben, dies insbesondere seit den 70er-Jahren. Seit der Krise der 70er-Jahre sind die Gesellschaften in ihren Problemlagen einander sehr viel ähnlicher geworden, auch viel vergleichbarer geworden.

Sehen Sie sich die Debatten über Immigration und Integration an, oder die Stellung des Islams in unseren Gesellschaften. Da haben wir ganz ähnliche Debatten in Frankreich und in Deutschland. Insofern würde ich Ihnen zustimmen, dass die Gesellschaften sind mit ähnlichen Problemen konfrontiert.

Kassel: Wenn Sie aber doch ausdrücklich auch jetzt immer noch betonen, die politischen Kulturen sind sehr unterschiedlich, was meinen Sie damit?

Waechter: Damit meine ich vor allen Dingen den Umgang mit Konflikten, der in Deutschland und Frankreich sehr unterschiedlich gehandhabt wird. In Frankreich hat man es mit einer stark konfliktuellen politischen Kultur zu tun, Verhandlungen zwischen Sozialpartnern verlaufen zumeist sehr, sehr schwierig und enden oft in Streiks oder in Entscheidungen der Regierung, während wir in Deutschland eine viel tiefer verankerte Kultur des gesellschaftlichen Konsenses oder der Konsensfindung haben. Allein hierin würde ich insbesondere die Unterschiede sehen.

Kassel: Wir reden im Deutschlandradio Kultur heute Nachmittag mit Matthias Waechter, deutscher Historiker, der in Frankreich lebt, und in beiden Ländern – Frankreich und in Deutschland – arbeitet, über die deutsch-französische Freundschaft und den Zustand, in dem sie jetzt ist. Rein theoretisch könnte Frankreich da, was die politische Kultur angeht, was von Deutschland lernen?

Waechter: In der Tat, davon bin ich auch überzeugt. Das wäre auch wirklich ein Punkt, der in einer Präsidentschaftswahlkampagne wie jetzt Sinn machen würde, zu sagen, wenn man sich das Modell Deutschland ansieht – modellhaft könnte in Deutschland die Form der Konsensfindung sein für Frankreich.

Kassel: Was könnte eventuell Deutschland vom französischen System lernen?

Waechter: Wo man voneinander lernen kann, ist etwa in Bereichen der Sozialpolitik, etwa der Umgang mit Berufstätigkeit von Frauen, oder die Versorgung von Kleinkindern in staatlichen Aufnahmeeinrichtungen ist in Frankreich viel, viel besser gelöst. Der Umgang mit Einwanderung hat in Frankreich eine ganz andere Geschichte, und davon könnte Deutschland viel lernen, mit was für Problemen Einwanderung einhergeht, um auch deutsche Debatten über Einwanderung etwas zu entideologisieren. Platz von Religion in der Gesellschaft, da könnte auch Deutschland sich mit Frankreich befassen – nicht unbedingt das französische Modell abgucken, aber darüber intensiv nachdenken. Auf solchen Ebenen sehe ich Möglichkeiten, dass Deutschland von Frankreich lernt.

Kassel: Guckt da, Herr Waechter, zumindest die gebildetere Schicht, die auch die entsprechenden Medien nutzt, auch mal über die Grenze und wundert sich? Es fiel mir gerade ein bei dem Beispiel, das sie gebracht haben mit der Rolle der berufstätigen Frau in Frankreich, wo auch ich tatsächlich den Eindruck habe, da ist es viel selbstverständlicher, dass Frauen auch wirklich Karriere machen, obwohl sie Kinder bekommen, wenn dann umgekehrt in Deutschland Diskussionen stattfinden, wie die Frauenquote in DAX-Betrieben, oder wenn über das Elterngeld diskutiert wird, und dann in Deutschland schnell Begriffe wie Herdprämie – ich weiß nicht, wie man das gut übersetzen kann ins Französische - fallen, guckt da manchmal auch die französische Öffentlichkeit etwas verwundert nach Deutschland?

Waechter: Sofern das überhaupt zur Kenntnis genommen wird, schon. Ja, das wird natürlich zur Kenntnis genommen von Franzosen, die in Deutschland leben, mit großer Verwunderung zur Kenntnis genommen.

Kassel: Es ist auch dann eine Medienfrage. Sie sehen natürlich sowohl deutsche als auch französische Medien – sehen Sie, lesen Sie, hören Sie. Muss man das beiden Seiten vorwerfen, trotz Projekten wie arte, und ein paar anderen Sachen, dass in Frankreich wenig über Deutschland und in Deutschland wenig über Frankreich berichtet wird?

Waechter: Ja, es wird in Frankreich – die französischen Medien verfolge ich derzeit wesentlich intensiver – viel zu wenig über Deutschland berichtet, überhaupt viel zu wenig über das Ausland berichtet. In der deutschen Berichterstattung über Frankreich finde ich vielfach immer wieder alte Klischees wieder, die schon längst überholt sind. Und zwar sprechen deutsche Medien immer noch gerne von der Grande Nation, als wenn Franzosen sich immer noch als Angehörige einer Grande Nation verstehen würden – dieser Begriff ist völlig verschwunden aus den französischen Diskursen. Es herrschen auf beiden Seiten immer noch klischeehafte Vorstellungen vor, gerade in der Medienberichterstattung.

Kassel: Wie ist es denn – jetzt haben Sie ein Beispiel für die deutschen Vorurteile genannt – bei der Medienberichterstattung in Frankreich? Was sind denn da typische Vorurteile über Deutschland, die da teilweise immer noch, wenn auch vielleicht manchmal unbewusst, transportiert werden?

Waechter: Was französischen Berichterstattern sehr übel aufstößt, sind Ansätze einer deutschen Hegemonialpolitik, und die hat man in den letzten Monaten oder den letzten Jahren in der deutschen Europapolitik wahrgenommen. Wenn es etwa heißt, in Europa wird Deutsch gesprochen, dann wird es in Frankreich natürlich sehr schlecht aufgenommen.

Kassel: Damit sind wir bei der Sprache, damit wollen wir es vielleicht abschließen. Aber es gibt eine Menge Menschen in Deutschland und in Frankreich, die sagen, ein Problem zwischen den Deutschen und Franzosen ist auch die Sprache. Statistiken in beiden Ländern beweisen, die Anzahl der Franzosen, die Deutsch lernen, hat abgenommen, die Anzahl der Deutschen, die Französisch lernt, hat abgenommen – mir kommt das manchmal ein bisschen banal vor.

Ist wirklich das ein Problem, oder kann man da sagen, wenn selbst Deutsche und Franzosen, wenn die wirklich miteinander reden wollen, können sie auch englisch reden?

Waechter: Das würde ich nicht unbedingt sagen, dass die miteinander englisch reden können. Das ist schon für eine gute Kenntnis des Nachbarlandes absolut notwendig, die Sprache zu können. Die Tendenz war insbesondere bis zur Mitte des Jahrzehnts 2000 sehr besorgniserregend, seitdem haben sich die Zahlen etwas stabilisiert, sie sind auch teilweise in Frankreich etwas gestiegen. Wir haben natürlich da auch sehr positive Ansätze wie Abi-Bac-Klassen, wo man das deutsche Abitur und das französische Bac machen kann.

Ich halte es für notwendig, ja, für eine gute Kenntnis des Nachbarlandes ist die Kenntnis der Sprache notwendig und auch, um persönliche Beziehungen zu knüpfen. Da können Sie in Frankreich nach wie vor nicht mit Englisch über die Runden kommen.

Kassel: Das Verhältnis zwischen Deutschen und Franzosen hat sich 49 Jahre nach der Unterzeichnung des Élysée-Vertrages ein wenig abgekühlt, das muss man zugeben. Wir sprachen darüber mit dem in Frankreich lebenden und in beiden Ländern lehrenden Historiker Matthias Waechter. Herr Waechter, Vielen Dank!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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