Attacke gegen religiöse Eiferer

28.04.2011
Welche Anstrengungen der französische Philosoph und Aufklärer Voltaire unternahm, um dem Unrecht gegen den Tuchhändler Jean Calas zu begegnen, zeigt die Voltaire-Expertin Ingrid Gilcher-Holtey.
An unrühmlichen Fehlurteilen herrscht bekanntlich kein Mangel in der Geschichte der Rechtssprechung. Die Dreyfus-Affäre etwa um den jüdischen Offizier, der genauso unschuldig war an dem Landesverrat, für den man ihn anklagte wie die Rosenbergs in den 1950er Jahren, die angeblich Stalin die Formeln für die Atombombe weitergaben. Gemeinsam ist diesen Skandalen eine verblendete Justiz, die die öffentliche Meinung nach ihren Maßstäben manipulierte, und mutige Zeitgenossen, die eine Rehabilitierung der Opfer erkämpften.

Ein solcher Fall ist auch die Affäre Calas. Aus der Sicht Voltaires war sie "tragischer als alle Tragödien", die er jemals geschrieben hat. Der Meisterdenker des 18. Jahrhunderts verdiente sich in der Aufklärung dieses Falls bleibende Meriten.

Am 10. März 1762 wurde Jean Calas, ein protestantischer Tuchhändler in Toulouse, zum Tode verurteilt, gerädert und verbrannt. Man hatte ihn für schuldig befunden, seinen ältesten Sohn ermordet zu haben, weil dieser angeblich zum Katholizismus übertreten wollte. Ohne einen Hauch von Beweisen hatten die Richter sich auf von ihnen selbst in Umlauf gebrachte Gerüchte gestützt und im Sinne fanatischer Katholiken geurteilt. Voltaire, der Calas’ Täterschaft zunächst nicht ausschloss, begann selbst zu recherchieren und überzeugte sich von dessen Unschuld. Von nun an mobilisierte er drei Jahre lang alle Kräfte, um eine Revision des Verfahrens zu erreichen.

Wie es ihm gelang, die öffentliche Meinung umzustimmen und schließlich die Justiz in die Knie zu zwingen, zeichnen seine von Ingrid Gilcher-Holtey herausgegebenen Schriften zur Affäre Calas nach. Es sind dies eine Auswahl an Briefen (von insgesamt 473), die der schon damals geachtete Schriftsteller an einflussreiche Pariser Honoratioren schrieb, um deren Sympathie für die Sache zu gewinnen. In einem weiteren Kapitel richten sich Mitglieder der Familie Calas, die Gattin des hingerichteten Opfers und seine zwei Söhne brieflich an Staatsrat, Kanzler und König. Auch diese Bittschriften, die er als Flugblätter in ganz Europa kursieren lässt, stammen aus der Feder Voltaires.

Raffiniert zieht der Verfasser des "Candide" darin alle Register seines rhetorischen Könnens, von der rationalen Argumentation bis zur herzerweichenden Schilderung des zwischen Furcht und Hoffnung zerrissenen Innenlebens der Bittsteller. Zwei Beiträge aus seinem philosophischen Wörterbuch – eine glühende Anklage gegen religiösen Fanatismus und ein Plädoyer für Toleranz und Gerechtigkeit – ergänzen die schriftliche Kampagne.

Leider sieht man sich bei der Lektüre der teilweise zum ersten Mal ins Deutsche übersetzten Texte von der Herausgeberin alleingelassen. Erläuternde Anmerkungen zu Personen und Ereignissen bekommt man erst im kundigen, sehr informativen Nachwort. Freilich hätte man sich von der Professorin für Zeitgeschichte statt müßiger soziologischer Erörterungen über Begriffe wie "Affäre" oder "Fall" am Ende ein Räsonnement darüber gewünscht, welchen Beitrag dieser historische Fall zu heutigen Debatten leisten kann, über die Stellung des Islam in westlichen Gesellschaften etwa. Denn fest steht: Voltaires Attacke gegen Unrecht und religiöse Eiferer hat nichts von ihrer Aktualität eingebüßt – zumindest bei all denjenigen, die gegen jede Art von Fundamentalismus misstrauisch sind.

Besprochen von Edelgard Abenstein

Voltaire: Die Affäre Calas, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Ingrid Gilcher-Holtey
Insel Verlag, Berlin 2011
295 Seiten, 29,90 Euro
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