Atheismus in der Türkei

Erdogan fürchtet um die fromme neue Generation

13:29 Minuten
Muslime bei den Eid al-Adha Gebeten in der Fatih Mosche in Istanbul.
Während des Gebets mal nicht konzentriert? Oder wird die Religion zunehmend zur Fassade bei jungen Muslimen in der Türkei? © picture alliance / AA / Arif Hudaverdi Yaman
Pierre Hecker im Gespräch mit Kirsten Dietrich · 16.10.2022
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Die Türkei unter Präsident Erdoğan versteht sich als muslimische Nation. Aber für immer mehr junge Leute spielt der Glaube keine große Rolle mehr. Konservative Kreise sind von dieser "Religionsmüdigkeit" beunruhigt.
Kirsten Dietrich: Wenn man der letzten staatlichen Umfrage von 2014 Glauben schenkt, dann leben in der Türkei 99,2 Prozent Muslime – das restliche knappe Prozent teilen sich Christen und Juden. Die Zahlen sind aber nicht repräsentativ: Nennenswerte muslimisch geprägte Minderheiten wie die Aleviten werden beim sunnitischen Mehrheitsislam einfach einsortiert. Und die Möglichkeit, sich als „ohne Religion“ oder „atheistisch“ zu bezeichnen, existierte schlicht gar nicht.

Diskriminierung von nicht religiösen Menschen

Neuere Umfragen von privaten Meinungsforschungsinstituten zeichnen denn auch ein anderes Bild. Da tauchen nämlich schon ungefähr fünf Prozent Menschen auf, die als nicht religiös und damit auch als nicht muslimisch eingeordnet werden. Das mag nach wenig klingen, ist aber eine ernsthafte Herausforderung für die Regierung von Präsident Erdogan, denn der wollte eine neue fromme Generation in einer muslimischen Nation heranziehen.
Über Atheismus in der Türkei habe ich mit Pierre Hecker gesprochen. Er forscht am Centrum für Nah- und Mittelost-Studien der Universität Marburg zu Atheismus und Kulturpolitik in der Türkei. Ich wollte von ihm wissen, was denn die Situation für nicht gläubige Menschen in der Türkei so schwierig macht. In Deutschland zum Beispiel ist es ja verglichen damit inzwischen kein großer Akt mehr, keiner Religion anzugehören.
Pierre Hecker: Zunächst mal würde ich argumentieren, dass wir ja auch in Deutschland schon eine Privilegierung des Religiösen erfahren, dass auch durchaus in deutschen Kontexten eine Diskriminierung, eine aktive Diskriminierung von nicht religiösen Personen und Atheisten stattfindet. Sie müssen nur mal versuchen, an einer hessischen Grundschule Ihr Kind aus dem alternativlosen Religionsunterricht rauszunehmen. Das verursacht schon Schwierigkeiten und macht auch hier Religionslose unsichtbar.

Bei der Geburt automatisch als Muslim registriert

Was bedeutet das in der Türkei? Ich hatte jetzt gerade von Religionsunterricht gesprochen – in der Türkei bedeutet das momentan, dass es einen verpflichtenden Religionsunterricht für muslimische Kinder gibt. Neugeborene werden automatisch als Muslime registriert und müssen demnach auch am Religionsunterricht teilnehmen, und das ist ein sunnitischer Religionsunterricht. Alevitische Kinder werden also darüber diskriminiert, aber eben auch die Kinder von religionslosen Familien.
Um ein Beispiel zu nennen: Einer meiner Interviewpartner, der selbst aus einer muslimischen Familie stammt, hat seine Tochter, die in die Schule kam, als Christin registrieren lassen, um zu vermeiden, dass sie am Religionsunterricht teilnehmen muss. Das heißt, es gibt solche Ebenen staatlicher Diskriminierung.
Ein Vater und eine Tochter mit Gesichtsmasken beten am Eid al-Adha in der Zentralmoschee von Atayurt.
Eid-al-Adha Gebete in Ankara: Wer nicht am religiösen Leben teilnimmt, kann in der Türkei soziale Ausgrenzung erfahren. Manchmal bis hin zum Verlust der Arbeitsstelle.© picture alliance / ZUMAPRESS.com / Tunahan Turhan
Und dann haben wir natürlich auch noch eine Diskriminierung, die in der Alltagswelt stattfindet. Es gibt im Türkischen einen Ausdruck für den Druck des Viertels, den sozialen Druck, der auf Personen ausgeübt wird. Die Norm ist es, religiös zu sein. Wir haben ein "religionormatives" Umfeld: Es erwartet, dass man religiös ist, dass man muslimisch ist, oder wenn man es nicht ist, zumindest die religiösen Werte und Gebräuche respektiert.
Schon zu sagen, "Ich faste nicht während Ramadan", kann als Respektlosigkeit wahrgenommen werden, und das kann durchaus diszipliniert und sanktioniert werden. In meinen Interviews hatte ich Fälle, in denen Personen ihren Job verloren haben, weil sie sich öffentlich zum Atheismus bekannt haben. Sehr viele andere Personen, die sich als nicht religiös, als atheistisch, identifizieren, verbergen diese Identität.
Das heißt, sie nehmen aktiv an religiösen Praktiken teil, also sie gehen mit den Kollegen zum Gebet oder sie fasten während Ramadan, einfach weil sie sich fürchten, dass sie hier Repressionen erleben. Das kann soziale Ausgrenzung sein, das kann der Jobverlust sein, das kann aber in extremen Fällen auch physische Gewalt bedeuten.

Individuelle Gründe für Distanz zur Religion

Dietrich: Das sind wahrscheinlich sehr individuelle Motivationen, die Menschen dazu treiben, sich von Religion abzuwenden oder gar nicht erst irgendwie Zugehörigkeit zur Religion oder zum Islam zu entwickeln. Gibt es denn Gemeinsamkeiten dabei, trotz aller Individualität?
Hecker: Wir erleben in der Türkei seit mehreren Jahren eine sehr weitgehende Debatte über Religionslosigkeit und Atheismus. Eines der zentralen Argumente vonseiten eines religiös-konservativ geprägten Milieus ist es, dass es im Islam ja eigentlich keine Religionslosigkeit gibt und geben kann, und Personen, die den Islam verlassen, die tun das aus dieser Sicht nur, weil sie sich verwestlicht haben, weil sie sich selbst kolonialisieren, das sei der einzige Grund.
Deshalb halte ich es für wichtig zu betonen, dass es sich hier um individuelle Prozesse handelt, das heißt um individuelle Erlebnisse – seien das nun Erlebnisse in der eigenen religiösen Erziehung, in denen Andersdenkende diskriminiert werden und die Personen das nicht mehr mit ihren eigenen Werten vereinbaren können. Das kann aber auch bedeuten, dass Personen sagen: "Ich habe mich immer so vor der Hölle gefürchtet, und das macht für mich alles keinen Sinn". Oder dass bestimmte Doktrinen nicht länger akzeptiert oder geglaubt werden.
Pierre Hecker trägt eine dunkle Kapuzenjacke und ein T-Shirt mit buntem Aufdruck im Graffity-Stil.
Die Regierung von Präsident Erdogan baut auf religiöse Identität, erklärt Pierre Hecker von der Uni Marburg. Nicht religiöse Menschen werden in der Türkei deshalb zunehmend unter Druck gesetzt.© Christian Stein
Oder aber – und das ist auch ein weiterer Grund –, dass Personen sagen: "Ich wende mich ab von der Religion", weil das Religiöse stark identifiziert wird mit der aktuellen herrschenden Elite, die für sich in Anspruch nimmt, den Islam zu repräsentieren – diese Elite ist aber korrupt, sie verhält sich unmoralisch, und wenn das der Islam ist, dann will ich damit nicht länger zu tun haben.
Also, es gibt diese ganze Bandbreite, aber dennoch ist es so, dass sich bestimmte Muster erkennen lassen. Ich hab das so ein bisschen lax versucht zu untergliedern in drei Gruppen: Zum einen haben wir quasi die Natural Born Atheists, das heißt, das sind Personen, die in ihrem Leben eigentlich gar nicht religiös sozialisiert sind. Das ist vor allem eine ältere Generation jenseits der 60, die weder einen Religionsunterricht in der Schule erlebt hat, noch im familiären Umfeld religiös sozialisiert war.

Allmählicher oder bewusster Abfall vom Glauben

Dann haben wir noch eine andere Gruppe, die religiös, aber doch säkular geprägt war und für die im Laufe des Lebens die Religion immer mehr an Bedeutung verliert. Also das Religiöse verschwindet quasi fast schon passiv aus dem Alltag.
Dann haben wir aber auch noch eine Gruppe, die ich bezeichne als Disillusioned True Believers, also die desillusionierten wahren Gläubigen. Das heißt: Personen, die selbst in einem religiös-konservativen Umfeld aufgewachsen sind, unter anderem auch Studierende der Theologie, auch Leute, die sich früher wirklich fundamentalistisch zu islamistischen Gruppen zugeordnet haben.
Über eine aktive geistige Auseinandersetzung mit den religiösen Quellen haben sie für sich festgestellt: Entweder macht das für mich logisch keinen Sinn, das Religiöse, oder hier werden auch Wertkonzepte vertreten in der Religion, die ich nicht weiter vertreten kann, und deswegen verabschiede ich mich aus der Religion.
Ein Eisverkäufer steht in türkischer Tracht an einem Eisstand in Istanbul.
Ein Eisverkäufer in türkischer Tracht in Istanbul: Für viele Menschen ist das Religiöse nur noch Dekor, beobachtet Pierre Hecker.© picture alliance / CHROMORANGE / Günter Fischer
Dietrich: Diese Gruppe von Menschen, die sich mal als sehr gläubig verstanden hat, aber jetzt den Sinn der Religion nicht mehr sehen kann, ist auch, wenn ich es richtig verstehe, diejenige, die das herrschende religiös-politische Establishment besonders beunruhigt, oder?
Hecker: Ja, das ist sicherlich richtig. Wir erleben seit etwa fünf Jahren, dass in zunehmendem Maße von "Religionsmüdigkeit" gesprochen wird in der Türkei. Diesen Begriff habe nicht ich geprägt, sondern das ist ein Begriff, den vor allem zwei Personen geprägt haben, die aus einem religiös-konservativen Milieu stammen. Das ist zum einen Ayşe Böhürler. Sie ist ein Gründungsmitglied der heute regierenden AKP und sitzt auch aktuell im türkischen Parlament für die AKP. Die andere Person ist Necdet Subaşı, ein Religionswissenschaftler, der leitende Funktionen innerhalb der Behörde für religiöse Angelegenheiten innehatte.
Beide sprachen vor etwa fünf Jahren plötzlich von „Religionsmüdigkeit innerhalb unserer Jugend“. Mit „unserer Jugend“ meinten sie Jugendliche, die einem religiös-konservativen Umfeld entstammen, also nicht die ohnehin schon vermeintlich gottlosen Kemalisten, sondern eben „unsere“ Jugendlichen, die die AKP repräsentieren und quasi auch die potenzielle weitere AKP-Wählerschaft darstellen.

Religiöse Traditionen als Lifestyle-Phänomen

Dietrich: Und die eigentlich ja ihr ganzes Leben unter diesem Einfluss gestanden haben.
Hecker: Genau richtig. Also es wird auch häufig von dieser Generation Z gesprochen, das heißt jene Jugendlichen, die sich an nichts anderes mehr erinnern können als an diese 20 Jahre AKP-Regierung und die auch die ganze Umstrukturierung im Bildungsbereich mit erfahren haben. Erdogan sprach vor etwa zehn Jahren von diesem Ziel, eine religiöse Generation zu erziehen, und in diesem Zusammenhang wurden auch Schul-Curricula geändert, es wurden zunehmend religiöse Schulen gefördert.
Das heißt, es ist diese Generation, die wirklich diesen ganzen Desäkularisierungsprozess in der Gesellschaft eigentlich durchlaufen hat, die jetzt eigentlich noch religiöser sein müsste. Plötzlich aber stellt sich heraus, oder vermeintlich heraus: Oh, die werden ja religionsloser und kehren der Religion zunehmend ihren Rücken. Was damit aber gemeint ist, sind eigentlich zwei unterschiedliche Sachen.

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Während Ayşe Böhürler damit sagte, die kehren sich von der Religion ab, die haben keine klaren Feindbilder mehr, es wird nicht mehr klar unterschieden zwischen "wir und die anderen" – die "anderen" wären eben die gottlosen Kemalisten –, meinte Necdet Subaşı damit etwas anderes.
Was er damit meinte, war eigentlich so eine Profanisierung des Religiösen, dass das Religiöse immer mehr zu einem Konsum- und Lifestyle-Produkt wird. Also, man bucht den religiös geprägten Urlaub, man trägt die religiöse Mode, oder man trinkt jetzt den Traubensaft in der Weinflasche, es ist natürlich alkoholfreier Traubensaft, aber es wird zu einem Konsumgut, und die spirituelle Ebene geht verloren.

Die Religionsfreiheit wird ausgehebelt

Also, diese zwei Ebenen in der Debatte gab es, und selbst diese Ebene, die Böhürler aufmachte, kritisiert natürlich indirekt massiv die Regierung, die ja versprochen hat: Es wird alles religiöser und es wird alles moralischer, und plötzlich geht aber eigentlich die Spiritualität, das Kernelement des Religiösen, zunehmend verloren.
Dietrich: Wobei in der Türkei ja eigentlich – das ist ja Teil dieser fast 100-jährigen Tradition des Kemalismus, des Säkularismus auch – Religionsfreiheit besteht.
Hecker: Ja, auch das ist natürlich richtig. Nach wie vor ist es in der Türkei so, dass die türkische Verfassung den Säkularismus als ein unveränderliches Prinzip definiert und auch die positive wie auch die negative Religionsfreiheit werden per Verfassung gewährt. Nun erleben wir es aber in der Türkei schon seit geraumer Zeit, dass ein Niedergang der Rechtsstaatlichkeit stattfindet und bestehende Gesetze in einem zunehmenden Maße verwendet werden, um auch gegen nicht religiöse Personen vorzugehen.
Hier geht es konkret im Strafgesetz um Artikel 216 Paragraf 3, der eigentlich Diskriminierung gegen religiöse Personen und Gruppen sanktionieren sollte – einen ähnlichen Paragrafen finden wir beispielsweise auch im deutschen Gesetz oder im italienischen –, und dieser Paragraf wird in einem zunehmenden Maße quasi als Blasphemiegesetz verwendet.
Also sprich: Schon allein die Äußerung, "Ich bin Atheist"," Ich bin Atheistin", oder die Kritik an religiösen Personen oder religiösen Lehrsätzen in der Öffentlichkeit kann zu einer Anklage von Personen führen mit dem Vorwurf, sie würden die Religion herabsetzen.

Atheismus als Widerstand gegen den Staat?

Die Frage dessen, was eine Verunglimpfung des Religiösen, der Religion ist, das ist ein mittlerweile völlig frei definierbarer Begriff, der nicht mehr vom Gesetz und den Juristen bestimmt wird, sondern eigentlich von der provozierten Öffentlichkeit, die sagt: "Ich fühle mich jetzt damit herausgefordert".
Dietrich: Ist religionslos zu leben dann ein Akt des politischen Widerstands?
Hecker: Religionslosigkeit kann als Akt des politischen Widerstands gesehen werden, auch wenn das vielleicht gar nicht so intendiert ist. Es geht um die Wahrnehmung einer bestimmten Handlung oder Nicht-Handlung, die als widerständig angesehen wird.
Konkret geht es hier beispielsweise darum, dass bestimmte religiöse Praktiken nicht länger öffentlich durchgeführt werden, nicht länger performt werden quasi. Also, das heißt, wenn eine Person während Ramadan nicht mehr fastet oder in der Öffentlichkeit Alkohol trinkt oder nicht mehr zum Freitagsgebet regelmäßig geht, dann kann das als ein widerständiger Akt wahrgenommen werden - natürlich wieder vor diesem ganz konkreten politischen Hintergrund, dass wir eine herrschende Elite haben, die sich religiös identifiziert, die ihre Legitimität zu einem großen Teil aus ihrer religiösen Identität zieht.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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