Atemberaubendes Psychogramm

01.04.2011
In "Die Glasfresser" zeichnet Giorgio Vasta den Prozess der Fanatisierung eines Heranwachsenden Ende der 70er-Jahre in Sizilien nach. Die beeindruckende Parabel auf moralische Verwahrlosung und gesellschaftliche Verrohung fand in Italien viel Beachtung.
Eines der turbulentesten Kapitel der italienischen Geschichte bildet den Hintergrund dieses erstaunlichen Debüts: die Entführung Aldo Moros im März 1978 durch die Roten Brigaden und die immer dramatischeren innenpolitischen Spannungen. Ein Elfjähriger, genannt Nimbus, zugleich der Icherzähler von Giorgio Vastas Erstling "Die Glasfresser", ist von den Ereignissen so fasziniert, dass er sich mit zwei Freunden zusammentut und versucht, die Aktionen der Terroristen zu imitieren.

Am Anfang steht ein Initiationsritus. Mit der Entschuldigung, in der Schule sei eine Läuseplage ausgebrochen, rasieren sich die Kinder ihre Haare ab. Durch ihre kahlen Schädel setzen sie sich von allen anderen ab. Dann stählen sie ihre Körper durch tägliches Training, studieren die Pamphlete der Roten Brigaden, erfinden Geheimsprachen und starten nach den Sommerferien eine Serie kleiner Anschläge. Ein Papierkorb wird angezündet, bald darauf eine Turnmatte.

Ein größerer Brand vor der Schule ruft die Eltern und die Lehrerschaft auf den Plan, das Auto des Direktors geht eines Tages in Flammen auf. Schließlich entführt das Trio einen leicht debilen Schulkameraden, versteckt ihn in einem Keller und quält ihn zu Tode. Der Höhepunkt der Mission soll die Entführung eines Mädchens sein, aber dazu kommt es nicht mehr.

Giorgio Vasta, 1970 in Palermo geboren und Verlagslektor von Beruf, entwirft nicht nur das atemberaubende Psychogramm eines Heranwachsenden, sondern zeichnet den Prozess einer Fanatisierung nach. Durch die Erzählperspektive wird der Leser zum unmittelbaren Zeugen der kindlichen Gedankenwelt. Nimbus durchläuft verschiedene Phasen.

Er beobachtet leicht überspannt, aber hochintelligent seine Umgebung, begeistert sich für geheime Kommandoaktionen, verhält sich, unterbrochen nur von wenigen Momenten des Zweifels, emotional zunehmend asketisch und verliert schließlich während der Entführung und Ermordung jegliche Fähigkeit zur Einfühlung. Dass er auch in seiner Familie vollständig isoliert ist, wird durch Sprachregelungen signalisiert. Die Eltern werden beispielsweise ausschließlich als "die Schnur" und "der Stein" tituliert, der kleine Bruder heißt "der Lappen".

Dem kalten Umgang entsprechen die Schauplätze: Neubausiedlungen und Stadtbrachen am Rand von Palermo. Vasta gestaltet seinen Helden so, dass man gleichermaßen in den Bann geschlagen und abgestoßen ist. Nimbus und seine Freunde verachten die Rituale des kleinbürgerlichen Italiens mit den Karnevalsfesten für Kinder, der obligatorischen Sommerfrische, den TV-Quizsendungen und den Schlagern von Rita Pavone und Adriano Celentano. Die Roten Brigaden verkörpern eine neue Wahrheit und werden für die drei Jungen zu einem sinnstiftenden Bezugspunkt.

Vasta arbeitet fast ausschließlich mit Beschreibungen, Dialoge gibt es nur wenige. Dass der Roman eine große innere Spannkraft entwickelt, liegt einerseits an der allmählich zunehmenden Grausamkeit, effektvoll durchbrochen von retardierenden Momenten, andererseits an dem sehr eigenen Tonfall. Stilistisch setzt sich Giorgio Vasta von dem – in Italien ebenfalls unter Debütanten sehr verbreiteten - pseudonaiven Raymond-Carver-Stakkato ab. "Die Glasfresser", in Italien viel beachtet und sehr erfolgreich, ist harter Stoff. Auf beeindruckende Weise zeichnet Giorgio Vasta moralische Verwahrlosung und gesellschaftliche Verrohung nach.

Besprochen von Maike Albath

Giorgio Vasta: Die Glasfresser
Roman
Aus dem Italienischen übersetzt von Ulrich Hartmann
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2011
316 Seiten, 19,99 Euro