Asylbewerber

Warum Estland kaum Flüchtlinge aufnimmt

Estlands Ministerpräsident Taavi Rõivas
Estlands Ministerpräsident Taavi Rõivas © picture alliance / dpa / Bertil Ericson / Tt News Agency
Von Sabine Adler · 02.12.2015
Estlands russischstämmige Minderheit gilt als schlecht integriert. Die Regierung nutzt diesen Umstand als Argument, nicht mehr Flüchtlinge aufnehmen zu wollen. Aber stimmt das überhaupt?
Gerade mal 550 Flüchtlinge will Estland in den nächsten zwei Jahren aufnehmen. "Zu viele", sagt die Mehrheit der Bevölkerung laut einer aktuellen Umfrage der Universität Tartu. 319 Personen wären akzeptabel. Ein Viertel der Esten möchte überhaupt keine Flüchtlinge im Land haben.
Die Regierung, die um diese Ablehnung in der Bevölkerung weiß, aber auch die Erwartungen in Berlin und Brüssel kennt, führt als Begründung für so wenig Solidarität die russischstämmige Minderheit an. Jeder vierte Este hat russische Wurzeln. Insgesamt 330.000. Eero Janson von der Flüchtlingsinitiative "Estonian Refugees Council" hält das Argument für vorgeschoben.
"Das überzeugt mich nicht, es ist eine Ablenkung von dem wahren Grund: Das Problem sind nicht die Flüchtlinge, denn wir haben kaum welche. Das wahre Problem sind Rassismus, Islamophobie und Fremdenfeindlichkeit."
"Große Probleme, russischsprachige Minderheit zu integrieren"
Kristi Toodo vom Human Rights Centre lässt das Argument der russischen Minderheit gelten. Bislang existiert ein einziges Aufnahmezentrum für rund 70 Flüchtlinge in einem Dorf namens Vao, weit von der estnischen Hauptstadt Tallinn entfernt. Zu Jahresanfang soll ein zweites eröffnet werden. Von Integration könne keine Rede sein, nicht bei den Flüchtlingen, nicht bei den Russischstämmigen, so die Aktivistin:
"Estland möchte ein Nationalstaat sein, der aus Esten besteht, weil es von uns Esten nur so wenige gibt. Wir haben große Probleme, die russischsprachige Minderheit zu integrieren. Und das sind Leute mit ähnlichem Glauben. Wie soll das erst gelingen bei Personen aus völlig anderen Kulturen und Religionen?"
Von den 330 000 Russischstämmigen besitzt ein Drittel einen estnischen Pass, ein Drittel einen russischen, und fast ein Drittel ist staatenlos, 80 000 Menschen. Mit den Ersatzpapieren können sie ohne Visum sowohl in die Schengen-Länder reisen als auch nach Russland. Das sind Vorteile, auf die viele nicht verzichten wollen, auch wenn sie dafür in Estland als unsichere Kantonisten angesehen werden.
Olga Sotnik hat selbst russische Wurzeln, die Vorbehalte gegen die russische Minderheit kann die Abgeordnete des Tallinner Stadtrats teilweise nachvollziehen, sagt sie, die sich als vollständig integriert bezeichnet.
"Die russischsprachige Minderheit ist keine homogene Masse. Ein Teil unterstützt allerdings in der Tat jeden Schritt der russischen Regierung und ist loyal gegenüber Moskau. Das ist also tatsächlich so eine fünfte Kolonne. Das sind sowohl die Staatenlosen, als auch die mit russischer Staatsbürgerschaft. Und von denen sind einige durchaus auch radikal eingestellt."
"Keine syrische oder afghanische Community"
Estland hat zwar eine EU-Außengrenze zu Russland, doch nur wenige, die aus Syrien, Irak oder Afghanistan fliehen, nehmen die langen Umwege in Richtung Nordosten in Kauf, erklärt Eero Janson. Wer die Route über Russland doch wagt, will – Dublin-Verfahren hin oder her – in Estland meist kein Asyl beantragen.
"Die Flüchtlinge bleiben nicht. Sie gehen in andere Länder, wo schon Bekannte oder Verwandte sind. In Estland gibt es keine syrische oder afghanische Community. Und selbst die Schmuggler-Routen führen nicht über Estland."
Den estnischen Aktivisten ist die mangelnde Solidarität ihrer Regierung zwar unangenehm, doch mehr Flüchtlinge aufzunehmen, würde bedeuten, sie gegen ihren Willen nach Estland zu bringen.
Wo kaum Flüchtlinge sind, haben entsprechende Hilfsorganisationen kaum Arbeit, könnte man meinen. Doch das Estonian Refugee Council hilft Flüchtlingen außerhalb Estlands, zum Beispiel in der Ostukraine. Und das Human Rights Centre setzt sich im Land für bessere Bedingungen in den geschlossenen Einrichtungen ein, in denen Asylbewerber auf die Entscheidung warten müssen, ob sie anerkannt werden.
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