Astrologie im Hinduismus

Handreichungen für jede Lebensphase

10:40 Minuten
Ein Wahrsager hält die Hand seines Kunden. Daneben liegen Karten mit den Bildern hinduistischer Götter und ein Gewirr roter Schnüre.
Ob Hochzeiten, größere Investitionen oder Staatsangelegenheiten - in Indien geht kein größeres Ereignis über die Bühne, ohne dass vorher astrologischer Rat eingeholt wurde. (Symbolbild) © Getty Images / iStockphoto / goc
Von Antje Stiebitz · 08.01.2023
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Was die Sterne über das eigene Lebensglück sagen? In Indien ist das für viele eine berechtigte und ernstzunehmende Frage. Die Astrologie ist selbstverständlicher Teil des Alltags und eng verbunden mit dem Hinduismus.
Navi Mumbai, eine Satellitenstadt von Mumbai am Ostufer der Meeresbucht Thane Creek. Der Shree Vara Siddhi Vinayaka Navagraha Temple ist dem elefantenköpfigen Gott Ganesha gewidmet. Das Wort "Navagraha" steht für die neun Himmelskörper der hinduistischen Astrologie, die hier ebenfalls verehrt werden.
Links vom Eingang ist für die "neun Lichter", wie sie in Indien auch genannt werden, ein kleiner Raum eingerichtet. Wer den Schrein betritt, schlägt zunächst eine Glocke.

Die Sonnengottheit trägt Orange

In der Mitte des engen Raums stehen auf einem Podest neun Figuren aus schwarzem Stein, relativ grob behauen, doch ihre Gesichter sind fein herausgearbeitet und um ihre Hälse hängen Blumengirlanden. Bei welcher der Figuren es sich um Sonne, Jupiter oder Saturn handelt, verraten die Farben der Stoffe, die die Bildnisse umhüllen.
Suriya etwa, die Sonne, trägt Orange. Jupiter, in Indien Brihaspati oder Guru genannt, ist in Blau gekleidet. Neun Mal umrunden die Gläubigen die neun Himmelskörper. Prema, eine mittelalte Frau in einem grünen Sari, hat das Ritual gerade beendet. Sie erklärt, dass jedem Wochentag eine andere Gottheit zugeordnet ist:
"Heute ist Freitag, auf Hindi heißt der Tag Sukrvar. Am Freitag verehren wir Venus. Die Tageszeit zwischen 10.30 und 12 Uhr nennen wir Rahu Kal, und da ist es günstig, die Göttin Durga zu verehren."
Hinduistische Planetenstatuen im Shree Vara Siddhi Vinayaka Navagraha Temple (Navi Mumbai)
Himmelskörper in bunten Gewändern: Die Figuren im Tempel von Navi Mumbai stehen für die neun Gestirne, die hier verehrt werden.© Deutschlandradio / Antje Stiebitz
Prema dreht sich um und deutet mit ihrer Hand auf zwei Frauen, die im Zentrum des Tempels auf Plastikstühlen sitzen: "Deshalb singen die beiden Damen Verse über Durga."

Ratschläge für unglückliche Tage

Prema erzählt, dass viele Gläubige ein jährlich erscheinendes Astrologie-Buch kaufen, das Auskunft darüber gibt, welche Tage im Kalender glücksverheißend und welche eher ungünstig sind. Wenn sich unglückliche Tage ankündigen, holen die Gläubigen zusätzlich Rat ein.

Wir gehen zum Astrologen und erklären ihm: Bei uns passieren gerade viele negative Dinge. Dann wird er uns sagen, dass wir ihm unser Horoskop bringen sollen. Er wird uns erklären, dass unsere Probleme mit diesem oder jenem Planeten zusammenhängen und dass wir deshalb eine rituelle Verehrung durchführen sollen.

Prema, Hinduistin aus Mumbai

"In Indien geschieht eigentlich fast nichts Wichtiges, ohne dass ein Astrologe gefragt wird", sagt der Indologe und Religionswissenschaftler Axel Michaels von der Universität Heidelberg. In seinem Buch "Der Hinduismus. Geschichte und Gegenwart" stellt er fest, dass die Bedeutung der Astrologie für das religiöse Leben der Hindus zu wenig wissenschaftliche Beachtung findet.

Sternenbefragung auch in Politik und Wirtschaft

Michaels vermutet, das könne mit der komplexen Materie von Jyotish, wie die indische Astrologie genannt wird, zusammenhängen. Bei seinen Forschungen hat er jedenfalls die Erfahrung gemacht, dass Jyotish, was übersetzt so viel bedeutet wie "Wissenschaft vom Licht", in Indien eine außerordentliche Bedeutung hat:
Ein auf Papier gezeichnetes Geburtshoroskop mit in ein Raster eingetragenen Zeichen und Symbolen.
Eine Persönliche Sternenkarte: Dem Geburtshoroskop sprechen viele Hindus eine wichtige Bedeutung für ihr gesamtes Leben zu.© Getty Images / Mayur Kakade
"Das gilt nicht nur für die Familie und das Dorf, sondern bis hin in die Politik. An den Schaltstellen von Politik und Wirtschaft werden solche Kriterien mit berücksichtigt. Und das nicht erst, seit die Modi-Regierung wieder auf traditionelle Werte setzt, sondern eigentlich schon immer."
Jyotish gilt als eine von sechs Hilfswissenschaften, die notwendig sind, um vedische Rituale durchzuführen. Mit Hilfe von Jyotish wird eine günstige Zeit für eine Unternehmung bestimmt. Deshalb kümmerten sich die frühen indischen Astrologen vor allem darum, günstige Daten für die Opferrituale zu ermitteln.

Ausschau nach der günstigen Konstellation

In den indischen Schriften aus dem zweiten Jahrhundert unserer Zeitrechnung lassen sich Einflüsse hellenistischer Astrologie nachweisen. Die Schriften des Mathematikers und Astronomen Aryabhata, der im Jahr 476 geboren wurde, gelten als Grundstein für die indische Astrologie.
Bis heute sei das Leben vieler Hindus stark von der alten Hilfswissenschaft geprägt, sagt Axel Michaels.

Die Astrologie ist religiös durchsetzt, und dementsprechend wichtig wird sie für das Leben eines Hindus. Das fängt schon mit der Geburt an. Es wird ein Geburtshoroskop erstellt, das dann auch im weiteren Leben außerordentlich wichtig wird, etwa bei der Heirat.

Axel Michaels, Indologe und Religionswissenschaftler

Vor einer möglichen Ehe wird mit Hilfe der Horoskope von Braut und Bräutigam bestimmt, ob die Konstellation günstig ist. Die Sterne sollten ein ausgewogenes Verhältnis anzeigen, erklärt Michaels:
"Und wenn es das nicht gibt, dann kann durchaus trotz Liebe und allem die Hochzeit daran scheitern. Und so gilt das ebenfalls für die wichtigen Unternehmungen, die zu einem astrologisch günstigen Zeitpunkt beginnen sollen, das gilt eigentlich für alle Rituale, wo der Astrologe vorher gefragt wird, wann dieser Zeitpunkt ist, und dann wird darauf geschaut, dass der Höhepunkt des Rituals genau an diesem Zeitpunkt stattfindet."
Das kann dann unter Umständen auch dazu führen, dass beispielsweise ein Hochzeitsritual mitten in der Nacht oder am frühen Morgen vollzogen wird.

Astrologie als Schicksalsmanagement

Mumbai, im Stadtteil Andheri East: eine kleine Agentur mit dem Namen "Ashok S. Sharma". Auf dem Schild ist unter dem Namen das Wort "Schicksalsmanagement" zu lesen. Ashok Sharma trägt ein orangefarbenes Hemd, keine Strähne seines Haares liegt quer. Die Stifte auf seinem Schreibtisch liegen in Reih und Glied, die vielen Bücher sind millimetergenau in den Regalen angeordnet.
Ashok Sharma sitzt an seinem Schreibtisch, auf dem ordentlich in Reih und Glied seine Stifte liegen. Im Hintergrund ein volles Bücherregal, an dem kleine indische Flaggen angebracht sind.
Nutze den Moment: Der Astrologe Ashok Sharma sucht immer nach dem besten Zeitpunkt, um persönliches Wachstum zu fördern.© Deutschlandradio / Antje Stiebitz
Ashok Sharma ist als beratender Astrologe tätig. Auch er spricht sofort von der ganz speziellen Rolle des richtigen Zeitpunktes.

"Eine Pflanze wächst auch nicht irgendwann. Eine Pflanze hat eine spezifische Zeit oder Jahreszeit, in der man sie pflanzt, und dann wächst sie von ganz allein. Genauso ist es mit der Suche nach dem richtigen Zeitpunkt durch die Astrologie, wann ein Gebet oder ein Opferritual abgehalten werden soll."

Ashok Sharma, Astrologe

Allein das Wissen um die positive oder negative Qualität einer bestimmten Zeit, erklärt der Astrologe, schärfe unsere Aufmerksamkeit. Jede Zeit bringe eine bestimmte Qualität oder Beschaffenheit mit sich. Und zu welchem Ergebnis eine solche Zeit führe, hänge davon ab, wie wir auf sie reagierten:
"Man muss auf die richtige Art und Weise reagieren und sollte sich gemäß der Hindu-Ethik korrekt verhalten. Man sollte die richtige Lebensweise kennen, damit man den richtigen Weg geht, egal ob in der falschen oder richtigen Atmosphäre."

Persönlichkeit statt Lottogewinn

Und fast ein wenig verärgert fügt Sharma hinzu: "Astrologie hat nichts damit zu tun, zu wissen, ob man in der Lotterie gewinnen, einen Job bekommen oder heiraten wird. Heutzutage fragen die meisten Menschen danach, aber dafür ist die Astrologie nicht gemacht. Es geht um dein persönliches Wachstum."
G.B. Forbes sitzt an seinem Schreibtisch, hinter ihm stehen auf einem Tischchen ein Drucker und eine Trophäe aus Gold und Kristall.
Das Horoskop eines Menschen sei - ähnlich wie sein Fingerabdruck - einzigartig, erklärt G.B. Forbes, ehemaliger Rektor der Astrologie-Schule Jyotish Bharaty.© Deutschlandradio / Antje Stiebitz
Die Astrologie-Schule Jyotish Bharaty ist im vierten Stock eines Colleges im Stadtteil Chowpatty untergebracht. G. B. Forbes, ehemaliger Rektor und heute aktives Mitglied der Schule, sitzt an seinem mit Büchern vollgestellten Schreibtisch und telefoniert. Auf dem Fensterbrett steht eine gold-kristallene Auszeichnung: der "2016 Lifetime Achievment Award" des Krishnamurti Instituts für Astrologie. G. B. Forbes legt den Hörer auf und erklärt:
"Der wichtigste Teil in einem Horoskop ist der Aszendent, weil er die Persönlichkeit der Person darstellt. Die Sonne zeigt die Seele an und der Mond den Geist. In gewisser Hinsicht sind Sonne, Aszendent und Mond gleich wichtig. Aber wenn man sie einzeln beschreibt, ist der Aszendent am wichtigsten."

Zwiespältige Wirkungen der Planeten

Die Materie ist komplex: Es gibt zwölf Sternzeichen, zwölf Häuser und neun Planeten, die in unendlichen Varianten miteinander kombiniert und aufeinander einwirken können. Das Horoskop eines Menschen soll, wie sein Fingerabdruck, einzigartig sein. Deshalb, so G. B. Forbes, gelte es auch vorsichtig zu sein.

Es ist nicht immer einfach, sofort eine Antwort zu geben. Manchmal müssen sehr detaillierte Berechnungen gemacht werden.

G. B. Forbes, Astrologie-Lehrer

Planeten, erklärt der Astrologie-Lehrer, wirken niemals nur negativ oder positiv: "Von Jupiter beispielsweise wird immer gesagt, dass er ein gütiger Planet ist. In gewisser Weise ist er aber auch boshaft, denn Diabetes wird direkt mit ihm in Zusammenhang gebracht."
Um eine negative Wirkung abzuwenden oder eine positive Wirkung zu verstärken, erklärt G. B. Forbes, verordnen Astrologen Gebete, Rituale und astrologischen Schmuck.
In Deutschland hat die Astrologie trotz ihres transzendenten und kosmologischen Charakters keine religiöse Bedeutung. In Indien ist das anders. Dort ist die Astrologie ein Massenphänomen, eine religiöse und kulturelle Praxis, die ein Landwirt oder Schuster genauso in Anspruch nimmt, wie ein Bollywood-Star oder der Premierminister.

Dieser Beitrag wurde erstmals am 6. Januar 2019 ausgestrahlt.

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