ASMR-Entspannungsvideos

Einschalten zum Abschalten

08:36 Minuten
Eine junge Frau verfolgt die Sendung "Gentle Whispering" (Sanftes Flüstern) auf einem YouTube Kanal.
Viel passiert nicht: Eine junge Frau verfolgt die Sendung "Gentle Whispering" (Sanftes Flüstern) auf YouTube. © picture alliance / dpa / Jens Büttner
Von Thomas Groh · 28.11.2019
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Bei YouTube gibt es nicht nur lustige, informative oder aufregende Videos, sondern auch langweilige - zum Entspannen und Wohlfühlen: ASMR lautet das Fachwort dafür. Einst ein Nischenprodukt, erreichen ASMR-Videos mittlerweile Millionen.
Lange Zeit galten ASMR-Videos als ein Online-Kuriosum, auf das man irgendwann beim Herumklicken gestoßen ist: Plötzlich wurde man angeflüstert, man sah Menschen, die sich stundenlang die Haare kämmten oder wurde im Video-Rollenspiel von einer als Ärztin verkleideten YouTuberin in direkter Anrede untersucht.
Was die einen nur noch befremdlich finden, feiern andere als Entspannungshilfe: ASMR, das steht für Autonomous Sensory Meridian Response und bezeichnet das wohlige Kribbeln, das unter der Kopfhaut beginnt und wie ein beruhigender Schauer über den Körper zieht – den richtigen "Trigger", also Auslöser, vorausgesetzt.
Manche kennen das Phänomen vielleicht völlig unabhängig von dieser Bezeichnung und den YouTube-Videos – nämlich vom TV-Maler Bob Ross, richtig, dem Mann mit den kitschigen Landschaften. Seinen Videos sagen viele eine beruhigende Wirkung nach. Und in der Tat ist Bob Ross so etwas wie der erste ASMRtist – so nennen sich die YouTuber, die ASMR-Videos erstellen.

Die Szene professionalisiert sich

Ursprünglich ein reines Hobbyphänomen - wovon auch der noch sehr handgemachte Charme der ersten ASMR-Videos kündet - hat sich die Szene mittlerweile professionalisiert und inhaltlich ausdifferenziert: Das Equipment ist mittlerweile hochwertig, nicht zuletzt dank der Initiativen findiger Sponsoren, die ihre Produkte gerne prominent in reichweitenstarken Videos platzieren. Die Videos werden immer aufwändiger und einfallsreicher, die Reichweiten höher – und leider auch das Product Placement auffälliger.
Längst hat sich ein Star-System etabliert. Die erfolgreichsten ASMRtists haben Videos mit Reichweiten im zweistelligen Millionenbereich und können von den Werbeinnahmen gut leben.

Hyperreale Klänge

Zumindest klangästhetisch ist das mit dem Equipment ein Zugewinn: War bei den Flüstervideos das Grundrauschen des Mikrofons früher oft lauter als der Trigger selbst, ist ASMR nunmehr in einer Hyperrealität angekommen, die die Beschränkungen des menschlichen Ohres weit hinter sich gelassen hat.
Die Klangtextur von Schab- und Reibgeräuschen tritt so hochaufgelöst vors Ohr, wie sich das im Alltag ohne technologische Hilfe nicht bewerkstelligen lässt. Bei den Schmatz- und Kau-Videos – für manche ein Segen, für viele einfach nur schauderhaft – meint man mittlerweile, sich mitten im Mund des YouTubers zu befinden.

Interesse der Werbeindustrie

Lange Videos, die sich hochkonzentriert auf Details richten: Dass dies auch die Werbeindustrie interessiert, versteht sich in Zeiten eines zunehmend von aufblitzenden Oberflächenreizen geprägten Internet-Alltags von selbst.
Eher als Netzkultur-Parodie ist es zu verstehen, wenn Jan Böhmermann – wie im Herbst 2018 geschehen – seine neue Staffel "Neo Magazin Royale" mit einem halbstündigen ASMR-Video ankündigt. Wenn ein bekanntes skandinavisches Möbelhaus sein Sortiment systematisch durchstreicheln lässt, dann hat das mit handfesten monetären Interessen zu tun. Im Werbeblock des Super Bowls 2019 – dem Werbe-Schaufenster in den USA schlechthin – machte Zoë Kravitz ein Millionenpublikum nicht nur mit einer Biermarke vertraut, sondern auch mit der Klang- und Zeige-Ästhetik von ASMR.
Auch im Mainstream der Popkultur ist das Phänomen mittlerweile angekommen: Die Art, wie der Teenie-Popstar Billie Eilish singt – ganz nah am Mikrofon, ganz sacht gehaucht – scheint direkt von ASMR inspiriert. Und einer der ASMR-Blockbuster stammt von Cardi B, die für das W Magazine in die Mikros haucht und ihre Fingernägel klackern lässt.
Kulturell interessant ist die Entdeckung der Langsamkeit, für die ASMR steht, allemal. Sie widerspricht der gängigen Ansicht, dass im Netz immer alles schneller und aufgeregter wird.
Offenbar gibt es ein neues Bedürfnis nach Verlangsamung und Fokussierung. Böse und kulturkritisch könnte man vielleicht sagen: Erst macht uns das Internet nervös und überfordert uns mit einem Überschuss an Informationen und schafft so einen Bedarf an Möglichkeiten zum Ausschalten – wozu man dann doch wieder einschaltet, in ein ASMR-Video.

ASMR in den heiligen Hallen der Kunst

Auch die Hochkultur kommt dabei nicht zu kurz. Einen der faszinierendsten ASMR-Accounts der letzten Zeit stellt der Kanal Baumgartner Restauration dar. In aufwändigen Videos kann man hier der mühsamen und kleinteiligen Restaurierung alter Kunstwerke zusehen.
Der Chicagoer Kunstrestaurator, der dafür verantwortlich zeichnet, bietet seine Videos in zwei Versionen an – einmal mit und einmal ohne erklärende Tonspur. Man kann sich kaum entscheiden, ob man nun sanft entspannen oder nicht doch lieber fasziniert zuschauen und etwas lernen will.
Nur ein randständiges Phänomen? Keineswegs, auch die Videos mit den restaurierten Kunstwerken erfreuen sich einer beträchtlichen Reichweite. Vielleicht tauchen ja bald auch auf Arte Kultur-Dokus im ASMR-Stil auf.
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