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Stanislav Aseyev: "Heller Weg – Geschichte eines Konzentrationslagers im Donbass"
Ein Zeugnis abgrundtiefer menschlicher Bosheit

Folter beherrschte von Beginn an den Krieg in der Ost-Ukraine. Der heute 32-jährige Schriftsteller Stanislav Aseyev durchlitt sie in dem berüchtigten illegalen Gefängnis „Isolazija“ 28 Monate lang. Nun ist sein Report unter dem Titel „Heller Weg: Geschichte eines Konzentrationslagers im Donbass 2017 – 2019“ auch auf Deutsch erschienen.

Von Sabine Adler | 19.01.2022
Stanislav Aseyev nach seiner Freilassung 2019
Stanislav Aseyev nach seiner Freilassung aus dem illegalen Gefängnis „Isolazija“ im Jahr 2019 (Foto: (c)Serg Glovny/imago images/ZUMA Wire, Buchcover: Ibidem Verlag)
Der Ort des Geschehens ist eine stillgelegte Fabrik für Isoliermaterialien. Seit 2014 ist „Isolazija“, Isolation, ein illegales Gefängnis. Wohl das schrecklichste in der Ost-Ukraine. Isolation liegt mitten in der ehemaligen Millionenstadt Donezk. Die Adresse: Heller Weg Nummer 3, daher der Buchtitel. Stadtbusse fahren am Werksgelände vorüber, das vor dem Krieg zwischen Separatisten und ukrainischem Staat Teil der Kunstszene war. Heute dienen die weitverzweigten unterirdischen Flure und Katakomben sowie die oberen Etagen des Produktionsgebäudes als Folterstätten. Der junge Journalist Stanislav Aseyev, der mit 27 Jahren von den prorussischen Separatisten verhaftet wurde, verbrachte hier 28 Monate.
Sein angebliches Vergehen: Spionage. Er wurde zu 15 Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Tatsächlich störte das autoritäre Regime der sogenannten Volksrepublik, dass der Ex-Philosophiestudent für den proukrainischen Sender Radio Swoboda aus dem besetzten Gebiet berichtete. Sein Pseudonym hatte ihn nicht geschützt.
„Sie werden tatsächlich von kleinen Blumen unter den Fenstern begrüßt, wenn Sie in der Sommerzeit ankommen, und in einigen Zellen können Sie eine Klimaanlage finden. Das ist die Wahrheit, aber nicht die ganze. Mein innerhalb eines Monats ergrauter Nachbar wird ihnen noch ihren anderen Teil erzählen: Eine Woche konnte er nicht sprechen wegen seiner verschwundenen Stimme, die er in nur einer Nacht verloren hatte – während er schrie, mit an seinen Genitalien befestigten Stromdrähten. Elektrischer Strom und ein Hodensack, von dem sich die Haut abschält, erzählen so viel mehr über die Isolation als eine Klimaanlage.“

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Jeder Folterakt wurde gefilmt

Mit seiner Ankunft in dem illegalen Gefängnis versucht Stanislav Aseyev einzufangen, was ihm und den Mithäftlingen widerfährt. Sein Schreiben, das spürt er sofort, ermöglicht ihm einen Blick von außen auf sich und seine Lage, bewahrt ihn vor dem Suizid, der Verrohung, gibt ihm einen Funken Hoffnung. Er schreibt auf schmutziger Pappe, Papierfetzen, manchmal sogar auf Blättern, die ihm aber häufig genug wieder abgenommen werden. Doch schon das Niederschreiben allein, ohne jede Aussicht auf Veröffentlichung, wirkt wie eine Reinigung, die ihm die erniedrigenden Qualen aus der Seele spült, ihm hilft, sie loszuwerden und zugleich festzuhalten.

Kein Krimi-Phantasieprodukt, sondern ein Dokument dunkler, bitterer Realität: Hunderte Männer und Frauen wurden in der „Isolation“ vor allem mit Strom und fast immer sexuell gefoltert. Die Opfer erlitten schwerste Verletzungen, einige starben. Die Mitgefangenen waren häufig Zeugen der Misshandlungen, immer aber bekamen sie die zerstörten Körper zu Gesicht, wenn diese in die Zelle zurückgeschleift wurden.

Jeder Folterakt wurde gefilmt und war im Büro des Direktors auf etlichen Bildschirmen live mitzuverfolgen. Aseyev sorgt, als er nach dem Gefangenenaustausch 2019 wieder frei ist dafür, dass das Geschehen in der Haftanstalt bekannt wird und dass es juristische Konsequenzen für die Täter hat. Deswegen verbündete sich Radio Swoboda, für das er inzwischen wieder arbeitet, mit dem Investigativ-Portal Bellingcat aus den Niederlanden. Zusammen erreichten sie, dass der Direktor des illegalen Gefängnisses, Denis Kulikowski, Palych genannt, festgenommen wurde. Palytsch, der öffentlich gestanden hat, Menschen selbst gefoltert zu haben, lernen wir in dem Buch von Stanislav Aseyev sehr genau kennen.
„Was kann man über einen solchen Menschen sagen? Als Erstes kommt mir nur Pathetisches in den Sinn: Verbrecher Nummer Eins, das absolute Böse. Aber das ist zu abstrakt für den, der das Leben von hunderten von Menschen in physische und psychische Asche verwandelt hat. Ein überzeugter Sadist, ein Gewalttäter, ein Henker und Alkoholiker mit klassischer Psychopathie. Dabei ein subtiler Psychologe und Manipulator mit einem guten Sinn für Humor. Genau er hatte das System in der Isolation so aufgebaut, dass die hier Gefangenen einander zu hassen begannen, wodurch sogar die kleinste Andeutung eines Aufstandes ausgeschlossen war.“

Das letzte Körnchen Mitgefühl ausgeschwemmt


Die Verhaftung Palychs ist eine Genugtuung für den jungen Schriftsteller, der zum einen die unzähligen Straftaten dokumentierte, zum anderen Antworten auf ganz elementare Fragen sucht. Was macht jemanden zum Sadisten? Warum zielt die Gewalt fast immer auf die sexuelle Erniedrigung und Quälerei von Männern wie Frauen?

Aseyevs Ton ist sachlich und zugleich warm. Er nennt weder Vor- noch Nachnamen seiner männlichen und weiblichen Mitgefangenen, weil er ihnen ersparen möchte, dass man sie erkennt. Selbstmitleid gibt er keinen Raum. Klug und hellwach beobachtet er auch sich selbst:
„Eine weitere Form der Psychohygiene in der Isolation war die absolute Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid der anderen Gefangenen, die auch mich selbst zwischendurch erfasst. Einmal, als mein Zellengenosse und ich Haferflockenbrei zubereiteten, begannen sie in der Nachbarzelle jemanden zu foltern. Es wurden elektrische Stromstöße eingesetzt, was am charakteristischen Stampfen der Beine zu erkennen war. Und obwohl mein Zellengenosse bleich wurde und keinen einzigen Löffel essen konnte, warte ich selbst lediglich zwanzig Minuten, bis ich mit dem Mittagessen begann und dies damit rechtfertigte, dass die Folter sowieso nicht aufhören würde, der Brei aber abkühlen und zu einem einzigen kalten Klumpen werden würde. Ich erinnere mich, dass sich mein Pritschennachbar, der erst etwas einen Monat saß, große Sorgen machte und die ganze Zeit wiederholte: „Wie ergeht es Sergej dort?“ Zu diesem Zeitpunkt befand ich mich schon anderthalb Jahre in der Isolation und der unendliche Strom solcher „Sergejs“ hatte mir nicht nur das letzte Körnchen Mitgefühl ausgeschwemmt – er begann mich zu nerven.“

Kaum zu ertragendes Unheil

In kurzen Kapiteln führt Stanislav Aseyev das Regelwerk des illegalen Gefängnisses vor. Er schreibt über Angst und die Zeit der Stille nach den Qualen. Er fragt, was verrückt und was die Norm ist in einem Kosmos, der vom Wahnsinn regiert wird. Er lässt uns an seinen Erinnerungen teilhaben, als sich alle seine Gedanken nur noch um Selbstmord drehen. Er erklärt, warum sich sein Hungerstreik als sinnlos herausstellte, welche Art Humor in solch einer Atmosphäre entsteht.

Detailliert schildert er auch die Methoden der Folter und Einschüchterung. Über viele Monate hinweg erleben Gefangene die Haftanstalt nur ausschnitthaft, weil sie sich stets eine Plastiktüte über den Kopf stülpen müssen.
„Helle Tage“ ist ein wichtiges Zeitzeugnis, das wertvolle Fakten über die Regierungsmethoden der separatistischen Volksrepubliken enthält. So bedrückend der Stoff auch ist, als Leserin ist man erleichtert, dass die Folterer diesen beeindruckend starken Autor nicht brechen konnten. Dass er uns so offen an seinen düstersten Erinnerungen teilhaben lässt, dass er uns verrät, wie er sie in Schach hält. Ein ungeheuer klug reflektiertes Buch über kaum zu ertragendes Unheil.
Stanislav Aseyev: "Heller Weg: Geschichte eines Konzentrationslagers im Donbass 2017 – 2019"
Ukrainian Voices, vol. 17
Herausgegeben von Andreas Umland
Aus dem Russischen von Martina Steis und Charis Haska
Ibidem Verlag, Hannover. 206 Seiten, 16,80 Euro.