Asbest

Die tödliche Wunderfaser

Das ICC (Internationales Congress-Centrum) in Berlin ist laut Gutachten mit Asbest belastet und wurde im April 2014 geschlossen
Laut Gutachten mit Asbest belastet und im April 2014 geschlossen: Internationales Congress-Centrum (ICC) Berlin © picture alliance / dpa / Bernd von Jutrczenka
Von Winfried Roth · 10.09.2014
Praktisch, vielseitig und lebensgefährlich: Asbest wurde über Jahrzehnte flächendeckend eingesetzt. Doch aus der vermeintlichen Zukunftstechnologie ist eine tickende Zeitbombe geworden. Die Zeit läuft - unaufhaltsam in Richtung einer "verzögerten Katastrophe".
Werftarbeiter: "Die Erfahrungen waren so, dass wir früher in Unwissenheit in Asbest gearbeitet haben. Dadurch sind sehr viele Kollegen erkrankt, einige schon verstorben. Das sind die leidvollen Erfahrungen, die wir machen mussten."
Renn: "Wir haben die ersten Berichte über Gesundheitsschäden, die medizinisch-statistisch robust waren, Ende der 50er-Jahre. Es hat aber dann bis 1993 gedauert, bis in der Bundesrepublik Asbest verboten worden ist, in der EU sogar bis 2005 - also fast 50 Jahre zwischen der Erkenntnis und dem wirklichen Handeln. Das hat uns als Risikoforscher sehr stark beschäftigt."
Schwellnus; "Das ist schon ein Drama, wenn Sie schauen, in wie vielen Gebäuden solche Produkte eingebaut sind. Da gibt es viele, viele Altlasten. Allein die ganzen Asbestzementdächer, die Asbestzementfassaden ... Die Altlasten in Deutschland - mit denen werden wir noch Jahrzehnte zu tun haben."
Das gefährliche Material sieht provozierend ungefährlich aus. In einem Museum des Berliner Stadtteils Neukölln, der einmal der wichtigste Standort der deutschen Asbestbranche war, liegt unter Glas ein Stück von einem alten Dachziegel aus Asbestzement, grau und verwittert. Auf keinem Schutthaufen würde es auffallen.
Das Mineral - die einen sagen "der Asbest", die anderen "das Asbest" - schien sogar ein besonders wertvolles Geschenk von "Mutter Natur". Dieser "Universalwerkstoff" bot kaum glaubliche Möglichkeiten, über 100 Jahre lang verwendete man ihn in Bauwirtschaft und Industrie geradezu verschwenderisch. Um 1980 war Asbest weltweit fast allgegenwärtig - es steckte in Bauten von der Garage bis zum Wolkenkratzer, in Autos, Eisenbahnwaggons und Schiffen, in Bodenfliesen oder Wasserrohren, in Toastern oder Haarföhnen.
Borrmann: "Mein Name ist Herbert Borrmann. Ich bin geboren 1943. Ich hab Betriebsschlosser gelernt. Ich bin in Berührung gekommen mit Asbest in den Jahren 1958/59, zu Beginn meiner Lehrzeit. Da war ich in einem Walzwerk tätig, hab meine Lehre dort absolviert. Dort war es zum ersten Mal, dass wir mit Asbestplatten in Berührung gekommen sind. Das Material war wie eine Platte aus Pappe. Die war weiß, man konnte das abbrechen, das bröckelte, staubte. Wir mussten Dichtungen schneiden, Rohre umwickeln usw. Dann hab ich angefangen bei den Stadtwerken Düsseldorf. 1976 war ich da als Meister bzw. Werkstattleiter bis 2003. Ich war tätig im Bereich Turbinenisolierung. Es staubte, staubte unheimlich. Das war das Schlimmste. Ich hab überall Asbest gehabt - 40 Jahre. Von 1958 bis 2003."
Balzer: "Man kann sich gar nicht vorstellen, unter welchen Bedingungen wir früher gearbeitet haben. Ob das auf Kraftwerken war, an Hochöfen war, Kokereien - welche Anlagen gerade gebaut wurden. Chemische Werke, Raffinerien, die großen Kraftwerke. Die Dehnungsfugen - da kam Asbestschnur rein. Dann haben wir Asbestpappen verarbeitet, um die Bleche zu schützen gegen Hitze. Ich wusste ja gar nicht, welche Auswirkungen da entstehen würden."
Der frühere Ofenmaurer Franz Balzer aus Essen hatte in den Sechzigern und Siebzigern "nur" 13 Jahre mit dem Material zu tun.
Asbest: Das ist die Geschichte eines Werkstoffs, der so praktisch und so nützlich und so vielfältig einsetzbar war, dass Generationen von Handwerkern, Ingenieuren, Managern ihm vorbehaltlos vertrauten. Mit buchstäblich atemberaubenden Folgen. Durch Asbeststaub wurden seit Beginn des Industriezeitalters Millionen Menschen krank, viele starben: Beschäftigte in Asbestbergwerken in Russland, in der Bauwirtschaft in Deutschland, in der Werftindustrie in Italien, in Autofabriken in Japan. Selbst auf Mieter und Verbraucher lauerten Risiken.
Asbest: Das ist geradezu ein Musterbeispiel für eine vermeintliche Zukunftstechnologie, deren Faszination so groß ist, dass Folgewirkungen viel zu spät geprüft werden. Und selbst als die Wirkungen bekannt waren, war es ein langer Weg, bis Konsequenzen gezogen wurden.
Balzer: "Dann hat man schon 1997 festgestellt, dass ich Asbestose hab. Zum ersten Mal hab ich so eine Art Reißen im Rippenfell gespürt, als wenn jemand mit Drahtbürsten darüber geht. Wie Krämpfe - das war ganz furchtbar. So hat das angefangen bei mir - 1997. Und wurde dann immer schlimmer."
Die Opfer sterben einen qualvollen Tod
Auch Herbert Borrmann leidet an Asbestose, einer Form der "Staublunge". Darüber hinaus droht den Opfern Krebs. In Deutschland sterben wegen Asbests jedes Jahr ein- bis zweitausend Menschen einen meist langwierigen, qualvollen Tod.
Eine Lagerhalle mit einem zerstörten Asbest-Dach steht am 24.03.2014 in Liepen bei Anklam (Mecklenburg-Vorpommern). Asbest ist eines der gefährlichsten Baumaterialien. Bis heute hat die seit Beginn der 1990er-Jahre als Baustoff verbotene Mineralfaser nichts von ihrer Gefährlichkeit verloren.
Gefährliche Hinterlassenschaft: Asbest in einer abgerissenen Lagerhalle© picture alliance / dpa / Stefan Sauer
Schon vor über 100 Jahren warnten Ärzte vor Gesundheitsschäden. Aber Manager und Politiker beachteten sie nicht. Langfristige Gesundheits- und Umweltrisiken waren damals kein Thema - was zählte, waren der technische Fortschritt, Wirtschaftswachstum, Gewinne und Arbeitsplätze. Auch fiel kein Arbeiter, kein Ingenieur tot um, wenn er Asbest in die Hand nahm oder seinen Staub einatmete - allenfalls hustete er kurz. Bis zu einer Erkrankung vergehen gewöhnlich Jahrzehnte. Erst nach 1990 setzten in den meisten Industriestaaten, auch in Deutschland, die Regierungen dem Verkauf des "Universalwerkstoffs" ein Ende. Der vorzeitige Tod von Millionen Menschen wäre vermeidbar gewesen.
Lammert: "Der Gesetzgeber hat in Deutschland während der 80er-Jahre zum Umgang mit dem natürlich vorkommenden Mineral Asbest umfangreiche Gesetze und Verordnungen erlassen. Die Vorgaben zum Arbeitsschutz wurden in den Werken frühzeitig und rechtzeitig umgesetzt. Davon unabhängig erfolgte die Umstellung der Fertigung von Faserzement auf eine asbestfreie Technologie in Deutschland während der 80er-Jahre. Die vom Verband vertretenen Unternehmen freuen sich, diese schwierige Umstellung erfolgreich gemeistert zu haben."
So schaut Michael Lammert, der Geschäftsführer des Verbands der Faserzement-Industrie, zurück auf die Vergangenheit seiner Branche. Die Organisation war nur zu einer schriftlichen Stellungnahme bereit.
Die Gefahr lauert im Verborgenen
Jost: "Hier, das Schlafzimmer haben wir noch nicht gesichert. Zum ersten Mal mit Asbest in Berührung gekommen bin ich 2006. Vinylasbestplatten haben wir da identifizieren können. Wir haben eine Probe testen lassen und dann festgestellt, dass da 20 Prozent Asbest drin ist."
Rudolf Jost und seine Frau wohnten viele Jahre in einem hübschen Altbau im Berliner Innenstadtbezirk Schöneberg - bis sie sich wegen der Asbestbelastung eine andere Wohnung suchten.
Jost: "Das sind die Platten. Die sind jetzt 32 Jahre alt - da fangen die an zu brechen. In den anderen Zimmern haben wir eine Baufolie über die Platten gelegt und die Enden mit Silikon verklebt."
Anders als oft angenommen, ist Asbest in Deutschland nicht "verboten". Ein großer Teil des Materials, das um 1980 zwischen Rügen und Bodensee "verbaut" war, befindet sich immer noch an Ort und Stelle: in Dach- oder Fassadenplatten, in Lüftungsschächten, in Steckdosen, unter Badewannen, in Wasserrohren oder Bodenbelägen. Der Staat erließ strenge Bestimmungen zum Umgang mit diesen Altlasten - er schrieb aber nicht vor, das Material zu entfernen.
Heute geht das Risiko weniger von der Nutzung der Objekte aus als von unvorsichtigen Abriss- und Reparaturarbeiten - aus Unwissen oder Gleichgültigkeit wird oft Asbeststaub frei. Die Einhaltung seiner eigenen Bestimmungen kontrolliert der Staat kaum.
Renn: "Alle Risiken, die plötzlich eintreten - etwa ein Unfall, wo an einem Tag 500 Menschen sterben - haben eine ganz andere Wirkung auf die Politik als schleichende Risiken. Das gibt keine Schlagzeilen - das ist etwas, das im Verborgenen passiert."
Der Risikoforscher Prof. Ortwin Renn von der Universität Stuttgart.
In weiten Teilen der Welt wird das todbringende Material - völlig legal - nach wie vor in Bergwerken abgebaut und in Industrie und Bauwirtschaft verwendet.
Der "Fall Asbest" ist nur ein Beispiel für Gedankenlosigkeit - oder Verantwortungslosigkeit - bei der Produktion von Wohlstand. Er verdeutlicht die Risiken einer Wachstumsökonomie, die mehr als zwei Jahrhunderte lang nicht einmal versucht hat, ihre Folgen zu überschauen.
Schwellnus: "Man fand, dass das ein tolles Produkt ist. Das war natürlich ein tolles Produkt."
Dr. Konrad Schwellnus von der Beratungsfirma Wartig Nord in Hamburg, Experte für Asbestsanierung.
Der "Wunderstoff"
Packroff: "Es war so, dass Asbest als Wunderstoff, wie er damals genannt wurde, eine erhebliche wirtschaftliche Bedeutung hatte. Hochtemperaturisolierung, Dichtung, Brandschutz - das waren die großen Themen, für die Asbest zum Einsatz kam."
Der Chemiker Dr. Rolf Packroff, Gefahrstoffexperte der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin in Dortmund.
Viele Menschen glauben, Asbest sei ein synthetisch hergestellter Stoff. Aber es ist ein natürliches Mineral - meist spröde oder faserig, weiß, grün, blau, grau oder braun. Gigantische Vorkommen entdeckte man auf Zypern, in Russland, China, Simbabwe, Kanada, Brasilien.
Schon von der Steinzeit bis ins Mittelalter nutzte man das Mineral gelegentlich - etwa für Geschirr und in Schmiedeöfen. Asbest leitet keinen Strom, Hitze und Flammen machen ihm ebenso wenig aus wie Säuren, es ist leicht zu bearbeiten. Weil es häufig in geringer Bodentiefe vorkommt, ist es billig.
Die Industrie verwendete Asbest seit Ende des 19. Jahrhunderts in immer größerem Umfang, vor allem zur Hitzeisolierung - in Dampfmaschinen, Turbinen oder Lokomotiven, an Heizkörpern, in Herden, Bügeleisen oder Radios. Das Material geriet außerdem in unzählige Autos - es garantierte stabilere Bremsbeläge.
Asbest nutzte auch der Arbeitssicherheit. So zog der Ofenmaurer Franz Balzer manchmal Schutzkleidung aus Asbest an - wie Hochofenarbeiter oder Feuerwehrleute.
Am meisten Asbest verbrauchte seit Mitte des 20. Jahrhunderts die Bauwirtschaft. Behörden schrieben es zum Brandschutz vor, etwa an Stahlträgern, an Stromleitungen oder in Klimaanlagen - nicht selten in Form von Spritzasbest, einem schaumähnlichen Material. Begeisterte Ingenieure und entschlossene Manager fanden immer neue Anwendungsmöglichkeiten. So macht Asbest Zement und manche Kunststoffe fester.
Auch die Berliner Mauer enthielt das Material. Ein ungewöhnlich breites Sortiment an Asbestzementprodukten bot weltweit die Firma Eternit an. Solche Ziegel, Dach- und Fassadenplatten bedecken bis heute viele Millionen Gebäude. Von den 1960er- bis in die 1980er-Jahre verlegten Handwerker oder Mieter in Wohnungen und Büros gern komfortable asbesthaltige Bodenbeläge. Der Mineralstoff verhinderte eine rasche Abnutzung.
Schwellnus: "Wir haben hier Bodenbeläge, hier eine auf PVC-Basis hergestellte Bodenplatte mit Asbestfasern. Auf der Rückseite sehen wir noch einen Rest von Bitumenkleber - die sind auch sehr oft asbesthaltig."
Renn: "Ich denke, Asbest war ein Schlüsselereignis - insofern, als sehr deutlich wurde, dass die Erkenntnis von gesundheitlichen Schäden noch lange nicht bedeutet, dass etwas geschieht, um diese Schäden zu verhindern."
Das Leben wird zur Hölle
Prof. Renn, der Risikoforscher von der Universität Stuttgart über die Verantwortung von Industrie und Staat.
Packroff: "Die Heimtücke des Asbests ist - er setzt ultrafeine Fasern frei. Diese werden eingeatmet, sie gelangen bis in die tiefen Lungenbläschen, sie verbleiben dort. Sie führen dort zu Entzündungen."
Rolf Packroff. Die häufigste Erkrankung ist die Asbestose. Sie droht Bergleuten in Asbestgruben und Bauarbeitern, die jahrelang im Staub standen.
Balzer: "Man kann nicht mehr von Heilbehandlung sprechen - es gibt keine Heilbehandlung. Mit einer Verschlimmerung muss ich auf jeden Fall rechnen. Ich kämpfe bis zum Schluss."
Franz Balzer aus Essen. Diese Form der "Staublunge" macht den Opfern mit Erstickungsanfällen das Leben oft zur Hölle, im schlimmsten Fall führt sie zu Lungenversagen.
Außerdem kann das Einatmen des Mineralstaubs Lungen-, Nieren-, Kehlkopf- oder Speiseröhrenkrebs verursachen - und das sonst sehr seltene Mesotheliom, eine Krebserkrankung des Rippenfells. Anders als bei Asbestose reichen dafür schon geringe Staubmengen aus. Mesotheliome sind nicht heilbar. Möglicherweise ruft Asbest noch andere Formen von Krebs hervor.
Bemerkenswert ist, wie früh das Mineral bereits Verdacht erregte. Schon vor dem Ersten Weltkrieg warnten Ärzte vor den Risiken. Konrad Schwellnus:
"Die Lebensversicherungen haben schon damals angefangen, Leute abzulehnen, die beim Asbestabbau beschäftigt sind."
Aber die Arbeitsschutzbehörden schauten viele Jahrzehnte lang weg. Manchmal schrieben sie einfache Entlüftungsanlagen vor, die den Staub dann auch in der Umgebung der Werke verteilten.
Borrmann: "Das wurde geschnitten mit dem Messer oder mit einer Säge - alles ohne Mundschutz. So haben wir da gearbeitet."
Der frühere Asbestisolierer Herbert Borrmann aus Düsseldorf .
Balzer: "Da hat man oft die Handlampe nicht mehr gesehen, so hat das gestaubt. Stell dich nicht so an! Das war der Spruch. Gar nichts, nichts - niemand hat uns aufgeklärt. Da gab es keine Sicherheitsingenieure. Da gab es auch keine richtigen Masken - unsere Masken waren früher Schwämme. So war der Arbeitsschutz in den 60er-Jahren. Wichtig war immer der Helm - dass der Helm aufgesetzt war."
Über die damaligen Manager sagt Franz Balzer:
"Die wussten Bescheid! Desinteresse! Die haben es gewusst! Dann ist es kriminell. Selbstverständlich - dann hat man ja die Leute einfach in ihr Verderben reinlaufen lassen."
Wissen und nicht wissen wollen. Asbest zeigt, wie schwer es ist, eine Technologie, die sich durchgesetzt hat, wieder vom Markt zu verbannen. Die Unternehmen versicherten, es fehlten Ersatzstoffe. Gegen einen raschen "Ausstieg" sperrten sich auch manche Betriebsräte und Gewerkschaftsvertreter - sie hatten Angst um Arbeitsplätze.
Bis in die 90er-Jahre hinterließen Generationen von Autos nach jedem Bremsen kaum sichtbare Schleier von Asbeststaub. Weil Asbest schließlich in vielen Gebäuden, Fahrzeugen und Elektrogeräten zu finden war, zählten fast alle Einwohner der Industrieländer zu den "Risikopersonen". Dennoch war von ihrer Bedrohung lange Zeit kaum die Rede.
Jost: "Man hat da kein sinnliches Empfinden dafür. Und die Gefahr ist in die Zukunft verlagert."
Zuverlässige Daten zu Erkrankungen und Todesfällen durch Asbest in der breiten Bevölkerung liegen nicht vor.
Seit Mitte der 1960er-Jahre setzte sich die Öffentlichkeit zunehmend mit den Wirkungen von Industriematerialien auf Beschäftigte, Konsumenten und Umwelt auseinander. Neben DDT, Blei, Dioxin, PCB und vielen anderen Stoffen geriet auch Asbest in Verruf. 1972 verbot man in den USA, 1979 in der Bundesrepublik wenigstens Spritzasbest - die gefährlichste Verwendungsform des Minerals.
Seit Jahren schon steht das ehemalige Hochhaus der Deutschen Welle in Köln leer.
Asbestverseucht: Das ehemalige Hochhaus der Deutschen Welle steht seit Jahren leer.© picture alliance / dpa / Horst Galuschka
Ein Symbol für die Verwandlung des Universalwerkstoffs in einen angstauslösenden Gefahrenstoff und schließlich in eine kostspielige Altlast ist das 1980 fertig gestellte Hochhaus der Deutschen Welle in Köln am Raderberggürtel. Bereits zehn Jahre später stand die Sanierung auf der Tagesordnung. In einer WDR-Live-Sendung meinte ein aufgebrachter Mitarbeiter:
"Wir sind alle sehr, sehr beunruhigt, dass hier Asbestfasern eingeatmet werden. Fünf, sieben Jahre - die ganze Sanierung hindurch sollen wir hier drin bleiben. Um uns herum in Köln werden Schulen geschlossen, Theater, öffentliche Gebäude werden geräumt. Wir haben die Aussicht, Jahre hier drin zu bleiben, obwohl wir wahrscheinlich schon genug Fasern in uns haben. Das ist eine ganz fürchterliche Aussicht."
Das Hochhaus steht schon lange leer. In manchen Etagen lauert bis heute Asbest. Inzwischen wird der Abriss geplant.
Noch 1992 wollte Paul Wörnemann, Direktor des Konzerns Eternit, kein Risiko durch Asbestzement sehen:
"Im späteren Verlauf sind eingebaute Asbestzementprodukte völlig ungefährlich. Im Gegensatz dazu steht die Situation beim Spritzasbest, wo Sie sehr hohe Faserkonzentrationen hatten beim Aufspritzen. Das ist bei Asbestzement nicht der Fall - auch nicht bei Dach- oder Fassadenplatten, wenn sie fest eingebaut sind."
Aber diese Platten sind ja nicht unzugänglich oder versiegelt. Ein Verbot zumindest des Verkaufs von Asbest beschloss man in Schweden 1982, in Deutschland 1993, in der EU 2005.
Die "Katastrophe Asbest" wird bis heute oft als eine Art Naturkatastrophe wahrgenommen, als ein Verhängnis ohne Schuldige. Franz Balzer sieht es anders:
"Wut und Enttäuschung ist schon mit dabei. Wir brauchen ja nur daran zu denken, wie Schmidheiny oder Baron de Cartier mit Menschen umgegangen sind."
Die Verantwortlichen ziehen sich auf der Affäre
Stephan Schmidheiny aus der Schweiz und Louis de Cartier aus Belgien waren Eigentümer des Unternehmens Eternit, das in vielen Ländern Asbestprodukte herstellte. Gegen sie und andere Industrielle kam es seit den 70er-Jahren zu Prozessen, vor allem in Italien und den USA. Einige Firmen entschieden sich während der Verfahren für den Konkurs und entzogen sich drohenden Schadensersatzansprüchen. Oder Beschuldigte erschienen nicht vor Gericht - etwa weil sie im Ausland lebten. Verurteilungen blieben daher folgenlos. Politiker und Beamte zog man fast nie zur Rechenschaft. Eine Ausnahme waren die Ermittlungen gegen die frühere französische Arbeitsministerin Martine Aubry 2012, die aber schon nach kurzer Zeit mit dem Verweis auf eine unklare Rechtslage eingestellt wurden.
Spät, für viele Betroffene zu spät reagierten Politik und Wirtschaft auf die alarmierenden Befunde. Asbest: Da haben viele heute die Assoziation: asbestverseucht. Der Bewusstseinswandel war durchschlagend. Und der Ausstieg? Viele vor Mitte der 90er-Jahre fertiggestellte Gebäude sind "verdächtig".
Überall Altlasten
Systematisch auf Asbest untersucht wurde nur ein kleiner Teil von ihnen. Das ist auch ein schwieriges Vorhaben, weil Bauarbeiter und Heimwerker den - ohnehin unauffälligen - Stoff früher oft planlos und kleinteilig verwendeten.
Vollständig entfernt hat man das Material aus vielen öffentlichen Gebäuden. "Altlasten" sind aber noch in unzähligen Wohnhäusern, Fabrikhallen oder Garagen vorhanden - in Dach- und Fassadenplatten, in Rohrleitungen, Schornsteinen und Installationsschächten oder in Bodenbelägen.
Viele Baubeschäftigte und Heimwerker sind sich ihrer Gefährdung nicht bewusst. Andere sind über die Risiken durchaus informiert, aber ...
Schwellnus: "Die sagen sich 'Das ist so teuer ... Was soll's, keiner hat's gesehen, weg damit!'"
Es ist leicht, Politikversagen und Wirtschaftsinteressen für die schleppende Bekämpfung der Asbestgefahr verantwortlich zu machen. Doch ein nicht zu unterschätzender Faktor sind eingeschliffene Gewohnheiten. Eine erfolgreiche Technologie prägt Mentalitäten. Die zu verändern, ist nicht weniger schwer, als Politik und Wirtschaft zum Umdenken zu bewegen.
Der Abbau geht weiter
In Russland, China, Kasachstan oder Brasilien läuft der Abbau von Asbest bis heute mit staatlicher Billigung weiter, auch in zahlreichen anderen Ländern verwenden Bauwirtschaft und Industrie das Material wie selbstverständlich.
Packroff: "Wir haben zur Zeit knapp 1500 offizielle Todesfälle. Das sind fast 60 Prozent aller berufsbedingten Todesfälle."
In Deutschland sind an Asbestose und asbestbedingtem Krebs bisher vor allem Arbeiter gestorben, die früher mit dem Werkstoff zu tun hatten, allein seit 1990 etwa 30.000 Menschen. Weltweit ist Asbest jedes Jahr für mindestens 100.000 Tote verantwortlich. Hinzu kommen noch weitaus mehr Erkrankungen an Asbestose, die nicht tödlich enden, aber auch nicht geheilt werden können. Herbert Borrmann aus Düsseldorf:
"Ich hab auch 20 Kilo abgenommen durch meine Krankheit. Wenn man merkt, man kann kaum noch laufen, ohne stehenzubleiben - dann nervt das. Ich kann mit meinen Enkelkindern nichts unternehmen - oder der Frau behilflich sein. Wenn ich die Treppe hochkomme, muss ich für eine Etage drei Mal stehen bleiben."
Der Höhepunkt steht noch bevor
Voraussichtlich erreicht die "verzögerte Katastrophe" in Westeuropa und Nordamerika ihren Höhepunkt zwischen 2020 und 2030.
Die wirtschaftliche Bilanz: 200 Jahre lang machte das Material mit den faszinierenden Eigenschaften die unterschiedlichsten Produktionsverfahren einfacher und billiger. Auch der Nutzen für Konsumenten war unbestreitbar. Aber die Gesundheits- und Umweltschäden werden auf hunderte Milliarden Euro geschätzt - exakte Berechnungen sind nicht möglich.
Die Kampagne "Weg mit dem tödlichen Asbest!" löste seit den 80er-Jahren einen Boom von Ersatzstoffen aus. Zu ihnen gehören verschiedene Mineralfasern - etwa Steinwolle, Glaswolle und Keramikfasern. Keramikfasern sind nützlich als Isoliermaterial in industriellen Anlagen, in Gasthermen, Küchenherden oder Autokatalysatoren. Unternehmen boten solche Stoffe an, ohne dass man über sie genau Bescheid wusste. Wie sich herausstellte, verursachen auch bestimmte Keramikfasern Krebs. Das gehört zur Asbestgeschichte dazu: Beim eiligen Einsatz von Ersatzstoffen werden die alten Fehler wiederholt.
Könnte sich die "Tragödie Asbest" mit einer anderen Technologie wiederholen? Der Risikoforscher Ortwin Renn:
"Als die Kernenergie in den 50er-, 60er-Jahren eingeführt worden ist, hat man erst später gemerkt, welche Risiken auch damit verbunden sind und wie eine solche Technologielinie - von der Uranförderung bis zur Endlagerung - mehr Nebenwirkungen zeigte, als man ursprünglich dachte."
Massive Wissenslücken gibt es heute etwa bei Gen- und Nanotechnik. Außerdem:
"Wir kennen nicht einmal von fünf Prozent aller Chemikalien die toxikologischen Eigenschaften. Zwar wissen wir bei den anderen 95 Prozent viel über ihre Klassenzugehörigkeit. Aber wir finden immer wieder Überraschungen - dass bestimmte Chemikalien doch anders wirken, als man es vorhergesagt hatte. Und wir haben natürlich immer wieder neue Chemikalien."
Erst in den letzten ein, zwei Jahrzehnten wurden in Deutschland und der EU Initiativen für eine andere "Risikopolitik" gestartet, vor allem das EU-Programm REACH: die Abkürzung steht für Registration, Evaluation, Authorization and Restriction of Chemicals. Das Ziel: die Überprüfung von Industrie- und Baumaterialien gerade auf langfristige gesundheitliche Risiken wie Krebs, Allergien oder Schädigungen des Immunsystems. Allerdings: bis wenigstens die wichtigsten dreißigtausend - von über hunderttausend - Stoffen untersucht sind, dürften noch etliche Jahre vergehen.
Nach der Hysterie kommt das Vergessen
Am Beispiel Asbest kann man exemplarisch studieren: Selbst wenn Experten frühzeitig auf die Risiken einer verführerisch nützlichen Technologie hinweisen, herrscht gewolltes Unwissen, bis die Probleme unabweisbar sind und eine kritische Öffentlichkeit Alarm schlägt. Selbst dann ist das Umdenken ein mühsamer Prozess. Rudolf Jost wurde in einer Mietergruppe in Berlin-Schöneberg aktiv:
"Das ist ein Verdrängungsprozess bei ganz vielen Leuten. Wir haben ja diese Initiative ins Leben gerufen und auch an vielen Haustüren geklingelt und die Leute eingeladen - bei vielen ist uns passiert, dass die gesagt haben 'Das geht uns nichts an' - oder 'Ich hab kein Interesse daran'."
Zur den Reaktionen von Medien und Politik meint der Risikoforscher Ortwin Renn von der Universität Stuttgart:
"Themen werden zunächst einmal aufgegriffen, und wenn sie die üblichen Merkmale erfüllen - dass es einen Bösewicht gibt, dass Unschuldige betroffen sind - dann haben wir die sensationelle Nachricht. Sie verbraucht sich dann aber auch sehr schnell. Dieser Zyklus der öffentlichen Aufmerksamkeit ist etwas, was uns viel Kopfzerbrechen macht - weil häufig am Anfang Hysterie ist, obwohl es gar nicht so kritisch ist, und dann, wenn es wirklich kritisch ist, dann ist es vergessen."
Wie die Geschichte der industriellen Moderne zeigt, hatten viele technologische und wirtschaftliche Entscheidungen ungewollte, unvorhergesehene - womöglich aber vorhersehbare - Auswirkungen. Allein der Umgang mit den Asbestaltlasten lässt Zweifel aufkommen, ob die Absichtserklärungen von Unternehmen und Politik zu "Nachhaltigkeit" oder "Zukunftsverantwortung" mehr sind als Gerede.
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