Arztpraxen in der Coronakrise

Boom der Videosprechstunden

07:32 Minuten
Die Rentner Siglinde und Norbert Neumann benutzen ein Tablet für die Kommunikation mit ihrem Hausarzt.
Telemedizin ist gerade in der Coronakrise für Senioren eine große Hilfe. © picture alliance/Jan Woitas/dpa-Zentralbild/dpa
Von Dirk Asendorpf · 06.04.2020
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In der Coronakrise bieten immer mehr Ärzte Videosprechstunden an. Die Technik für die Ferndiagnose ist weit vorangeschritten, viele berichten von positiven Erfahrungen. Alles kann das Gespräch über Smartphone oder PC aber nicht wettmachen.
"Ich grüße Sie, hallo!"
Die Stimme klingt als käme sie aus einer Konservendose, doch auf dem Bildschirm erscheint der vertraute Hausarzt. Er heißt Jochen Gerlach und praktiziert im Hamburger Speckgürtel.
"Heute ist der Spitzentag seit meiner Videosprechstunden-Karriere. So viel wie heute habe ich noch nie gemacht. Keine 20 aber knapp drunter."
Viele seiner Patienten haben eigentlich nur eine leichte Erkältung, machen sich aber Sorgen, ob es sich womöglich um eine Coronainfektion handelt. Ins Wartezimmer wollen sie sich lieber nicht setzen. Schließlich könnten sie dort andere oder sich selber infizieren.
"Ich glaube schon, dass ich denen eine gewisse Ruhe und Gelassenheit vermitteln kann. Klingt banal, aber ich glaube schon, dass das was ausmacht, wenn die einen entspannten, gut gelaunten Hausarzt sehen, der sagt: Alles gut und schön, bleiben Sie zu Hause, aber keine Hektik, keine Angst."

Videosprechstunde über PC, Laptop oder Smartphone

Technisch ist die Sache ausgesprochen einfach. Der Patient erhält von seiner Praxis einen genauen Termin mit einem Zifferncode und Einwahllink. Der führt in ein virtuelles Wartezimmer, ist der Arzt online, ertönt ein Warnsignal und sein Gesicht erscheint auf dem Bildschirm des Patienten. Das funktioniert am PC, am Laptop oder auch per App auf dem Smartphone. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung KBV hat für die Durchführung der Videosprechstunden 21 Anbieter zertifiziert.

Damit der Datenschutz gewahrt bleibt, bauen sie eine verschlüsselte Direktverbindung zwischen Arzt und Patient auf. Werbeeinblendungen sind verboten und die Patienten müssen sich auch nicht mit persönlichen Daten registrieren. Arztpraxen zahlen normalerweise eine Nutzungsgebühr zwischen 30 und 150 Euro im Monat, derzeit werben die meisten Anbieter jedoch mit einem kostenlosen Zugang.
"Ich finde, dass es für den Arzt weniger Aufwand ist, sonst würde ich es auch nicht machen."
Antonia Stahl arbeitet als Hausärztin in Falkensee bei Berlin. Auch in ihrer Praxis nimmt die Zahl der Videosprechstunden gerade rasant zu.
"Ich brauche keine Mitarbeiterin, die vorne aufpasst, die die Patienten herbringt, die Patienten können sich nicht infizieren, wir müssen auch nichts reinigen. Und ich kann auch mal vor meiner eigentlichen Sprechstunde schnell noch von zu Hause eine Videosprechstunde machen. Insofern ist das schon eine Erleichterung."

Gute Erfahrungen auch in Alten- und Pflegeheimen

Auch für die Betreuung in Alten- und Pflegeheimen hat sich die Videosprechstunde bewährt. Mit der Technik müssen sich ihre betagten Patienten nicht herumschlagen, Stahl schickt eine Mitarbeiterin mit Tablet zu ihnen ins Heim. Noch funktioniert das allerdings nicht überall.
"Das größte Problem ist und bleibt die Netzabdeckung in Deutschland. Man müsste massiv die Videotelefonie in den Heimen ausbauen, weil da geht es um die Patienten, die es auch wirklich brauchen, die eben nicht mehr kommen können."
Corinna Stosshoff ist noch jung, sie war aber gerade viel zu weit weg, um in die Praxis ihres Hausarztes zu gehen. Die Videosprechstunde hat sie aus Sri Lanka genutzt.
"Ich hatte mehrere Wunden an den Beinen von einem Unfall und er konnte das so ziemlich gut beurteilen. Es war schon infiziert und dann hat er mir gesagt, was ich da für Medikamente nehmen könnte. Dementsprechend war einfach die Videosprechstunde für mich viel unkomplizierter als da irgendwo zum Arzt zu laufen."
Die Patientin konnte ihre Wunden mit der Smartphone-Kamera in Großaufnahme zeigen. Umgekehrt kann der Arzt in der Videosprechstunde neben seinem eigenen Gesicht in einem zweiten Bildschirmfenster auch beliebige Dokumente einblenden.
"Dass sowohl der Arzt als auch der Patient auf die Befunde gucken können und dass man Laborwerte mit dem Cursor zeigen kann, Röntgenbefunde gemeinsam durchgucken kann. Das ist schon pfiffig gemacht und das macht die Sache deutlich leichter und für alle Beteiligten akzeptabler."

Ärzte und Arztinnen können Zuschuss beantragen

Rund 20 Prozent seiner täglichen Patientenkontakte könnten genauso gut auch online erledigt werden, schätzt Jochen Gerlach. Ärzte können für die Grundausstattung eine Technikpauschale beantragen und erhalten dann pro Videosprechstunde auch zehn Euro mehr als für ein persönliches Gespräch in der Praxis.


Trotzdem kam die Sache nur langsam in Gang. Ganze 1400 Videosprechstunden hatte die KBV in den ersten neun Monaten des vergangenen Jahres bundesweit abgerechnet. Die Coronakrise verändert das jetzt radikal. Der Marktführer Jameda meldet eine Versiebenfachung der Nutzung in den letzten Wochen. Florian Weiß ist Gründer und Geschäftsführer des Ärzteportals.
"Wir sind gerade dabei, das Angebot zu erweitern, um Ärzten die Möglichkeit zu geben, Coronasprechstunden anzubieten, so dass Patienten auch sofort verfügbare Ärzte auf unserer Plattform finden können. Wir sehen die Krise auch als Chance und auch als Beschleuniger für diese Entwicklung. Und der Markt entwickelt sich entsprechend."
Armin Laschet (CDU, l), Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, der aufgrund der Corona-Pandemie eine Mundschutzmaske trägt, verfolgt bei einem Pressetermin zum Start des Virtuellen Krankenhauses an der Uniklinik RWTH Aachen neben einem Arzt (r) und Professor Gernot Marx (M), Vorstandsvorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Telemedizin, auf einem Bildschirm eine Behandlung in einem angeschlossenem Krankenhaus.
Armin Laschet (CDU, l), Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, verfolgt eine Videosprechstunde.© DPA / Henning Kaiser

Videosprechstunden in ganz Deutschland möglich

Ärzte und Krankenkassen haben sich auch auf eine erleichterte administrative Abwicklung verständigt.
"Wir haben die Videosprechstunde jetzt unbegrenzt abrechenbar gemacht, das war ja vorher limitiert. Auch die Menge der Leistungen war begrenzt, das ist alles aufgehoben. Das ist ein wichtiges Instrumentarium, um zu vermeiden, dass Patienten unnötig in die Praxen kommen."
Sagt Alexander Gassen, Vorstandsvorsitzender der KBV. Auch Krankschreibungen bis zu zwei Wochen sind derzeit nach einer Videosprechstunde möglich – ohne Umweg durchs Wartezimmer. Einzelne Internetportale vermitteln besonders schnelle Videosprechstundentermine, indem sie Patientenanfragen über ganz Deutschland verteilen. Jameda-Chef Weiß:
"Ich als Patient habe ja die freie Arztwahl in Deutschland und ich kann mich, wenn ich in München sitze, auch für einen Arzt in Flensburg entscheiden. Man muss zu Beginn der Behandlung seine Versichertenkarte in die Kamera halten, gut lesbar, und dann kann der Arzt diesen Patienten ganz normal behandeln."

Vorteile des persönlichen Kontakts

Wie hoch der Anteil der Sprechstunden ist, die auch online durchgeführt werden könnten, hängt stark von der Fachrichtung ab. Bei Radiologen geht es natürlich gar nicht, bei Orthopäden eher selten. Gut eignet sich die Videosprechstunde dagegen für Haut-, Hals-Nasen-Ohren- oder Hausärzte.
"Oft geht es darum, sich einen Eindruck von der allgemeinen Verfasstheit des Patienten zu verschaffen, gerade auch wenn es um Erkältungskrankheiten geht. Man kann auch in die Kamera husten und hören, man kann sich ein Bild machen von den Ohren, vielleicht auch von der verstopften Nase, das geht schon auch."
Der Hausarzt Jochen Gerlach legt keinen Wert auf die bundesweite Vermittlung von Patienten. Für ihn ist der persönliche Kontakt auch für eine gelungene Videosprechstunde eine wichtige Voraussetzung.
"Ich finde es wunder-wunderschön, dass ich meine Patienten kenne. Ich betreue meine Patienten mein Praxisleben durch. Das ist auch ein entscheidender Vorteil an Wissen. Ich kenne Patient A oder B, ich weiß wie die ticken. Es gibt ein Bauchgefühl. Ich habe teilweise Familien vom Urenkel bis zur Urgroßoma. Und das ist ein Wissensvorteil, der wirklich den Patienten zugutekommt. Und das ist durch eine anonyme Betreuung nicht ersetzbar."
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