Armut in Deutschland

Müssen Tafeln die Fehler in der Sozialpolitik ausbaden?

Ehrenamtliche Helfer von "Laib und Seele" sind bei der Essensausgabe von bedürftigen Menschen in einem Vorraum der Evangelischen Advent-Zachäus Kirche beschäftigt.
Immer mehr Menschen sind auf Lebensmittelspenden angewiesen: Essensausgabe in einer Berliner Tafel. © Annette Riedl / dpa
Von Anja Nehls · 06.03.2018
Nachdem die Essener Tafel einen Aufnahmestopp für Ausländer verhängt hat, schlugen die Wellen hoch. Doch das Problem seien weder Deutsche noch Ausländer, sagt der Paritätische Gesamtverband, sondern die Zunahme von Armut und Fehler in der Sozialpolitik.
Jeden Donnerstag kommt Brigitte Köhler zu einer der 45 Lebensmittelausgabestellen der Berliner Tafel. Für den eher symbolischen Betrag von 1,50 Euro bekommt sie hier Lebensmittel. Für sie sei dies "lebenswichtig", sagt sie. Die ersten ein, zwei Mal habe sie trotzdem geweint. "Man muss erst mal diesen inneren Schweinehund überwinden, erst mal diesen ersten Schritt machen, wo viele sich sagen, ich gehe nicht betteln."

Der Staat müsse "das Existenzminimum" für alle sicherstellen

150* Euro im Monat bleiben der Rentnerin nach Abzug aller Kosten zum Leben. Auf die Leistungen der Tafel könnte Brigitte Köhler deshalb nicht verzichten. Und genau da liege das Problem, sagt der Paritätische Gesamtverband. Der Staat müsse mit seinen sozialstaatlichen Leistungen dafür sorgen, dass für alle Menschen, gleich welcher Herkunft, das Existenzminimum sichergestellt sei.
Dominik Enste vom Institut für Wirtschaft in Köln sieht das ähnlich. Natürlich bestehe die Gefahr, "wenn es sich so etabliert, dass der Staat auf die Idee kommen könnten, da müssen wir gar nicht mehr soviel Sozialhilfe zahlen, denn es gibt ja so viel private Angebote". Wichtig sei es deswegen "deutlich zu machen, dass Tafeln immer ein akutes Problem lösen, dass aber die längerfristigen Therapieansätze darüber hinausgehen müssen".
1,5 Millionen Menschen in Deutschland beziehen inzwischen regelmäßig ihre Lebensmittel von einer der 937 Tafeln. Die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander, sagt der Berliner Pfarrer Peter Storck, in dessen Kirche ebenfalls Lebensmittel verteilt werden. Der Armuts- und Reichtumsbericht mache es ja deutlich: "Dass die unteren 20 Prozent überhaupt kein Einkommen und keine Rücklagen und Erspartes haben und die oberen zehn Prozent 60 Prozent des gesamten Reichtums des Landes besitzen." Das sei eine Spreizung, "die auf Dauer auch als extrem ungerecht empfunden werden und faktisch ja auch ungerecht sind". Immer mehr Menschen stehen also Schlange für immer weniger Lebensmittel, denn: Weil der Handel inzwischen besser disponiert, sinkt die Menge, die es zu verteilen gibt.

"Arme dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden"

Wenn, wie bei der Essener Tafel, ein Aufnahmestopp für Nicht-Deutsche Bedürftige verhängt werde, zeige das deutlich, dass die Politik versagt habe, meint Günter Burkhardt von Pro Asyl. "Arme dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden", sagt er. "Flüchtlinge erfüllen eine Sündenbockfunktion. Dass das irgendwann eskaliert, ist absehbar."
Ausbaden müssen das die Ehrenamtlichen vor Ort. In vielen Ausgabestellen gab es bereits Rangeleien, bestätigt Sabine Werth. Es sei "keine Frage der Herkunft, ob ich jetzt gerade der Meinung bin, dass ich benachteiligt werde oder nicht". Auch sie habe in einer Ausgabestelle schon mal die Polizei rufen müssen, "weil sich zwei in der Warteschlange geschlagen haben, da wurde dann Hausverbot erteilt".
Die Tafeln mit ihren ehrenamtlichen Mitarbeitern müssten nun die Fehler in der Sozialpolitik ausbaden, die bereits weit vor der Flüchtlingswelle gemacht worden seien, beklagen der Paritätische Gesamtverband, die Nationale Armutskonferenz und Pro Asyl in einer gemeinsamen Erklärung.

Bundesvorsitzender der Tafeln fordert "Armutsbeauftragten"

Sie fordern eine Erhöhung der Regelsätze um mindestens 30 Prozent, auch für Zuwanderer, mehr sozialen Wohnungsbau, fair bezahlte Arbeit, statt prekärer Beschäftigung, bessere Leistungen für Alleinerziehende und arme Rentner und eine bessere Ausstattung von Kindern.
Jochen Brühl, der Bundesvorsitzende der Tafeln will aber noch mehr. Er möchte, dass der Posten eines Armutsbeauftragten geschaffen wird. "Wir haben für alles in Deutschland Beauftragte, die sich dann eben auch massiv in die Politik mit einschalten." Nur für das Thema Armut gebe es das nicht, "weil das nicht interessant ist".
Bis es soweit ist, sind die Tafeln mit ihrem Problem allerdings weitgehend allein. Auch in Berlin gibt es inzwischen bei einigen Verteilstellen einen Aufnahmestopp – allerdings für alle, nicht nur für Ausländer.

Verteilung per Los oder an unterschiedlichen Wochentagen

Einige Tafeln bevorrechtigen Behinderte, Senioren oder Alleinerziehende, bei anderen kommen Bedürftige nur noch jedes zweite Mal zum Zug, wieder andere geben Lose aus.
Entscheiden müssen jeweils die Ehrenamtlichen vor Ort, nach irgendwelchen Kriterien oder ihrem Gewissen, wie Irmgard Schadach in der Lebensmittelausgabestelle in Berlin. Für sie sei es "ein Akt der christlichen Nächstenliebe, hier zu arbeiten, hier zu sitzen, auch wenn einer ankommt und nun noch immer keinen Folgenachweis erbringt. Es soll auch morgen nicht in der BZ stehen, 15-köpfige Familie hat hier nichts zu essen gekriegt. Das geht nicht."
Bei der Essener Tafel soll es demnächst einen Runden Tisch geben, an dem darüber geredet wird, ob es andere Lösungen für das Verteilungsproblem geben könnte.
*Hier wurde in einer ersten Version eine andere Zahl genannt. Wir haben den Fehler korrigiert.
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