Armin Nassehi: "Muster"

Wie Technik die Moderne sichtbar macht

05:43 Minuten
Buchcover zu Armin Nassehi: Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft
Die Digitalisierung dürfe nicht als "Kolonialmacht" begriffen werden, schreibt Armin Nassehi in "Muster". © C.H. Beck
Von Vera Linß · 30.08.2019
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Was steckt hinter dem Siegeszug der Digitalisierung? In seinem Buch "Muster" sorgt der Soziologe Armin Nassehi für einen Perspektivenwechsel. Seine These: Die moderne Gesellschaft sei schon digital gewesen, bevor es Digitaltechnik gab.
Dieses Buch provoziert. Ob in Sachen Datenschutz, Plattformökonomie, Hatespeech oder Künstliche Intelligenz: Seit Jahren suchen Wissenschaftler nach Ansätzen, wie die Gesellschaft mit der Digitalisierung umgehen soll. Doch Armin Nassehi ist das alles viel zu oberflächlich.
Die Wissenschaft interessiere sich nur für eine "Mischung aus kritischer Attitüde und alltagsnaher Beschreibung", wettert der Soziologieprofessor von der Universität München – und meint damit auch solch große Namen wie Shoshana Zuboff, deren Mammutwerk zum Überwachungskapitalismus kürzlich erschien.
Was Armin Nassehi stört, ist, dass die Wissenschaftlerinnen und Wisschenschaftler die digitale Technologie als "ein Thema unter anderen auf die moderne Gesellschaft applizieren" und damit als bereits existent voraussetzen.

Dritte Entdeckung der Gesellschaft

Weshalb kam es aber überhaupt zur Digitalisierung? Warum konnte sie so schnell ihren Siegeszug antreten? Danach werde nicht einmal gefragt! Genau diese Leerstelle will der Soziologieprofessor mit seiner "Theorie der digitalen Gesellschaft" füllen und nichts weniger als einen Perspektivenwechsel herbeiführen.
Und das gelingt ihm auch. Ausgangspunkt ist die Frage, welches Problem die Digitalisierung eigentlich löst. Denn Technik müsse immer einen Nerv treffen, eine Funktion erfüllen, um erfolgreich zu sein. Die Antwort des Soziologen überrascht: Die moderne Gesellschaft sei schon digital gewesen, bevor es überhaupt Digitaltechnik gab.
In einem profunden Rückblick zeigt Armin Nassehi, wie bereits im 19. Jahrhundert mithilfe von Sozialstatistiken Verhaltensmuster und Regelmäßigkeiten entdeckt wurden. Die Digitalisierung habe diese Datenanalyse schlicht perfektioniert und – nach der Entstehung der Nationalstaaten und der Moderne – zu einer "dritten Entdeckung der Gesellschaft" geführt. Die Komplexität der gesellschaftlichen Moderne sei dadurch erst sichtbar geworden.

Wunsch nach Wiedergeburt der Soziologie

Dass diese Errungenschaft gleichzeitig zu neuen Problemen – oder, wie es soziologisch heißt – zu "Störungen" führt, verschweigt Nassehi nicht. Akribisch listet er die altbekannten Herausforderungen auf. Für deren Bewältigung brauche es aber "intelligentere Steuerungs- und Beobachtungsformen" als bisher. Zuallererst einen neuen Blickwinkel: Wer die Digitalisierung als "Kolonialmacht" begreife und vor Kontrollverlust warne, verfehle sie schlicht.
Denn genutzt werde die Technik trotzdem. Wichtiger sei es deshalb, die Eigendynamik der digitalen Technik verstehen und gestalten zu lernen.
Wie kompliziert das ist, macht der Soziologe am Beispiel der Datenschutz-Grundverordnung deutlich: Eigentlich eine "geniale Sache", letztlich aber doch die Erlaubnis dafür, "mit Daten mehr zu machen, als der Einzelne wissen kann".
Hier mit Analysen weiterzuhelfen, sieht Armin Nassehi seine eigene Zunft in der Pflicht. Er wünscht sich gar eine "Wiedergeburt der Soziologie". Sein Buch ist die beste Empfehlung dafür. Wichtig wäre aber, dann auch kritisch Herrschaftsfragen in den Blick zu nehmen. Darauf hat Armin Nassehi bedauerlicherweise in diesem Buch verzichtet.

Armin Nassehi: "Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft"
C.H. Beck Verlag, München 2019
352 Seiten, 24 Euro

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