Architekturkritiker über Spannbeton

"Eine ganz, ganz großartige Erfindung"

Stadtpanorama von Köln mit Deutzer Bruecke und Rhein in der Dämmerung.
Spannbetonbrücke in Köln: "Eine der ganz wenigen strukturellen Neuerfindungen von einem Baumaterial seit der Antike." © imago stock&people
Nikolaus Bernau im Gespräch mit Max Oppel · 21.08.2018
Nach dem Einsturz der Morandi-Brücke in Genua hat der gute Ruf des Spannbetons gelitten. Architekturkritiker Nikolaus Bernau wundert sich angesichts des Wissensstands, wie viele sich zur Einsturzursache äußern. Er vertraut weiter darauf.
Nach dem Einsturz der Morandi-Brücke in Genua wird viel über die Ursache gesprochen. Der gute Ruf von Spannbeton hat seither sehr gelitten. Italienische Ingenieure nannten das Unglück nachträglich eine "vorhersehbare Tragödie", es habe immer schon strukturelle Zweifel am Bau von Riccardo Morandi gegeben, hieß es nun plötzlich. Der Architekturkritiker Nikolaus Bernau ärgert sich darüber, wieviel spekuliert wird.
Bernau empört sich darüber, wie viele Menschen sich derzeit zur Ursache des Brückeneinsturzes äußern, obwohl die Ursache noch gar nicht klar sei. Es gebe Spekulationen, aber um Klarheit zu bekommen, warum es zu der Katastrophe in Genua kam, werde es noch einige Zeit dauern. "Solche Untersuchungen dauern oft sehr, sehr lange", sagt Bernau Deutschlandfunk Kultur und erinnert daran, wie lange es etwa bei Flugzeugunglücken dauert, bis eine Absturzursache gefunden ist.

Legendäre Konstruktion

"Diese Brücke hat diverse Preise bekommen. Das war eine ganz berühmte Brücke. Das ist eine legendäre Konstruktion, die auf ein Patent von 1948 zurückgeht. Und Morandi ist einer der ganz, ganz großen Ingenieure des 20. Jahrhunderts gewesen. Und jetzt wird einfach mal so ganz schnell gesagt: 'Naja, wir wissen alle ganz genau, es hat nicht gehalten.`"
Spannbeton sei "eine ganz, ganz großartige Erfindung des 20. Jahrhunderts", sagt Bernau. "Übrigens eine der ganz wenigen strukturellen Neuerfindungen von einem Baumaterial seit der Antike." Mit Spannbeton ließen sich leichtere und besser einsetzbare Bauteile produzieren, die größere Distanzen überspannen als man es mit anderen traditionellen Materialien macht.


Auch heute werde Spannbeton vielfach verwendet, ganz neu etwa in der Hamburger Elbphilharmonie. "Es gibt kaum ein Gebäude, in dem Spannbeton – sobald es um größere Spannweiten geht – nicht eingesetzt wird." Bei Fertigteildecken im Industriebau werde Spannbeton ebenso genutzt wie weltweit beim Bau von Brücken. "Spannbeton hat eben auch den Vorteil: es ist berechenbar. (...) Er hat allerdings den Nachteil: man muss ihn immer und ununterbrochen instand halten."
Mit Baggern und Kränen werden Trümmerteile der teilweise eingestürzten Brücke in Genua weggeräumt.
Mit Baggern und Kränen werden Trümmerteile der teilweise eingestürzten Brücke in Genua weggeräumt.© dpa-Bildfunk/ Xinhua / Zheng Huansong

Vertrauen in Berufsstand der Ingenieure

Bernau geht davon aus, dass diese Instandhaltung auch gewissenhaft erfolgt, in Deutschland ebenso wie in Italien. Alles andere, betont Bernau, sei blanke Gerüchteküche. Zwar werde seit dem Jahr 2000, "im Grunde seit der neoliberalen Wende in den 90er Jahren", zu wenig Geld in die Instandhaltung sämtlicher öffentlicher Infrastruktur gesteckt, also auch bei Brücken und Spannbetonbauten, sagt Bernau.
"Aber die Ingenieure, die eingesetzt werden, die sind ja darauf geeicht und auch verpflichtet und lernen das auch in einem sehr, sehr langem Studium – das inhaliert man geradezu – dass sie vor allem der Öffentlichkeit und der Sicherheit gegenüber verantwortlich sind. Das ist ein Training, das man nicht so einfach ablegen kann, nur weil man in einem Betrieb drin ist oder einen anderen Geldgeber hat."
Bernau sieht zurzeit keinen Grund, an der richtigen Taktung der Untersuchungen zu zweifeln: "Nach allem, was wir bis jetzt wissen, wird das ordentlich gemacht. Was wir nicht wissen, ist, warum diese Brücke abgestürzt ist."
(mf)
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