Architektur gotischer Kathedralen

Gotteshäuser als Wunder aus Menschenhand

14:48 Minuten
Blick in das Kirchenschiff des Veitsdom
Zusammenspiel von Licht und Schall: Die gotische Kathedrale - wie hier der Sankt-Veits-Dom auf der Prager Burg - war darauf angelegt, alle Sinne zu reizen. © gettyimages / NurPhoto / Oscar Gonzalez
Christian Freigang im Gespräch mit Anne Françoise Weber · 14.06.2020
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Die mittelalterlichen Baumeister waren große Virtuosen. Ihre Bauten wirken im Zusammenspiel von Licht, Musik, Ausstattung und Liturgie – was sich über die Jahrhunderte stets veränderte, erklärt der Architekturhistoriker Christian Freigang.
Anne Françoise Weber: Gotische Kathedralen faszinieren bis heute. Über die Jahrhunderte haben Menschen wohl immer staunend, aber doch mit ganz unterschiedlichen Interpretationsmustern im Kopf in diesen Riesenbauten gestanden. Auch die Wissenschaft hat sich mit immer wieder neuen Fragen den alten Steinen genähert. Darüber möchte ich jetzt mit Christian Freigang sprechen. Er ist Professor für Architekturgeschichte an der Freien Universität Berlin. Herr Freigang, immer wieder liest man, die damaligen Baumeister hätten ihre Kathedralen dem in der Bibel geschilderten himmlischen Jerusalem nachempfunden. Hat man denn Zeugnisse dafür, dass das wirklich auch architektonisch der Bezugspunkt war? Gibt es da irgendwelche Längenangaben in der Bibel, auf die man sich bezogen hat?
Christian Freigang: Ja, es gibt natürlich Längenangaben in der Bibel, was den Salomonischen Tempel zum Beispiel betrifft. Aber es ist schwierig, das jetzt eins zu eins auf die gotischen Architekturen zu übertragen, einfach weil sie zu divers sind und weil die Maße dann letztendlich doch nicht übereinstimmen. Im Einzelnen kann das mal der Fall sein, aber dass es einfach eine Vorwegnahme ist dessen, was in der Bibel geschildert ist, das macht die Sache eigentlich auch zu kurz.

Den Stein virtuos bewältigt

Wahrscheinlich ist es viel besser, sich zu überlegen, ob diese virtuose Bewältigung des steinernen Materials, seiner statischen Probleme darauf abzielte, ein Wunderwerk, ein "merveille", ein Wunderbares zu schaffen. Das ist tatsächlich auch ein mittelalterliches Konzept, in dem nämlich vorausgesetzt wird, dass es Dinge gibt, die zwar möglich sind, aber von Gott noch nicht erschaffen worden sind, aber mit solchen wunderbaren technischen Verfahren realisiert werden können und dann tatsächlich auch zum Staunen anregen.
Weber: Das tun die Kathedralen auf jeden Fall. Diese Baumeister, die sind bisweilen wirklich verklärt worden. Man hat sich vorgestellt, das waren Menschen mit einem großen Geheimwissen, die da mit einer Zahlensymbolik operiert haben, irgendwelche mystischen Gedanken hatten. Ist das heute noch der Stand der Forschung, oder steckt da ganz schön viel Mittelalterromantik drin?
Freigang: Da steckt ganz viel Mittelalterromantik drin. Die heutige Forschung beschäftigt sich in dieser Branche eigentlich mit den ganz knallharten technischen Gegebenheiten. Wie zum Beispiel wird ein gotisches Gewölbe konstruiert, mit welchen Hilfsmitteln, wie wird es vorbereitet, wie gibt es Berechnungen oder zeichnerische Verfahren, die das ermöglichen? Wie werden Steine so geschnitten, dass sie dann auch so zusammenpassen, dass diese Wunderwerke wirklich stehen?
Es geht auch um die Verfahren, wie bezahlt wird, wie Geld eingesammelt wird, wie das Geld vielleicht auch verwahrt wird und dann zur rechten Zeit an die richtigen Leute ausgezahlt wird. Natürlich geht da nicht immer alles ganz, ganz richtig, aber das sind Fragen, mit denen sich die heutige Forschung zur gotischen Bautechnik und zur Bauorganisation beschäftigt.

Das Gesamtwerk als Abbild der Offenbarung

Weber: Das sind sehr weltliche Fragen. Wie ist es mit den theologischen Fragen? Man hat eine Zeit lang vermutet, dass bei der Kathedrale von Saint Denis nördlich von Paris auch eine wirkliche Theologie umgesetzt wurde von dem damaligen Abt und Auftraggeber, der von griechischen Manuskripten in seiner Bibliothek inspiriert wurde. Ist das die Sonderdisziplin Theologie, mit der man sich ansonsten nicht beschäftigt, oder ist das mittlerweile auch ein bisschen überholt?
Freigang: Wenn Sie mich so konkret fragen, genau dieser Fall, das wird heute nicht mehr so gesehen. Aber deswegen ist eine Interpretation der gotischen Kathedrale aufgrund theologischer Überlegungen nicht aus der Welt. Es betrifft aber nicht alleine die Architektur, sondern das Gesamte, das muss man im Blick haben. Mit Gesamtem meine ich die Ausstattung, die Altäre, die Glasfenster, die eine ganz wichtige Raison d’être darstellen. Das ist natürlich in der Tat insgesamt als eine Wiederholung, als ein Abbild der Offenbarung zu begreifen.
Farbenfrohes Glasfenster im Veitsdom
Auch die farbenfrohen Glasfenster im Dom von Prag tragen zu der besonderen Atmosphäre bei. © imago / Hans Blossey
Das, was in der Kathedrale stattfindet, ist jeden Tag und jedes Kirchenjahr eine Wiederholung des Lebens Christi. Das haust die Kathedrale ein als ein wunderbares Haus, in dem das stattfindet, ohne dass man jetzt unbedingt zu sehr in mystische Spekulationen geht oder es zu sehr verengt auf eine Lichtmystik, wie das zum Beispiel bei den Schriftstellern Panofsky oder Otto von Simson dargestellt wurde.

Die Vorsorge für das Geistliche war zentral

Weber: Und wie muss man sich das vorstellen? So eine Kathedrale war im Mittelalter ja auch ein Ort, in dem ganz viel gleichzeitig passiert ist und in dem ganz viele unterschiedliche Menschen unterwegs waren. Hat der Chorsänger da das Gleiche erlebt und gedacht und gefühlt wie die Marktfrau, oder war für die einen da eine große Theologie dahinter, und für die anderen war das der Ort, wo sie mal ein Kerzchen anzünden konnten?
Freigang: Das ist ganz wichtig, dass es unterschiedliche Wahrnehmungen gab. Die Marktfrau, die geht dahin, um eine kleine Opfergabe dort hinzulegen und versteht das ganze Andere vielleicht gar nicht, das Latein schon dreimal nicht. Der Chorherr und vielleicht sogar der Gelehrte, der hat da ganz andere Zugänge. Auf jeden Fall ist diese Vorsorge für das Geistliche ein zentraler Bestandteil des mittelalterlichen Lebens.
Nicht umsonst kommen die Chorherren – aber das gilt natürlich nicht nur für die gotischen Kathedralen, sondern auch schon für romanische und für neuzeitliche ebenfalls – mehrmals am Tag zusammen, um zu psalmodieren, das Chorgebet abzuhalten. Dazu muss man – und das gilt tatsächlich gerade dann auch für das gotische Bauen und auch die großen Pfarrkirchen, etwa im Deutschen Reich, da finden zahlreiche Privatmessen statt - da muss zu festgelegten Zeiten, jeden Tag, jede Woche, jedes Jahr, für eine Familie, einen wohlhabenden Stifter, eine Seelenmesse gelesen werden.

Großes Durcheinander von Farben und Tönen

Und insofern hat man viele, viele Quellen, die dieses Durcheinander und auch das Gezänk und die Streitereien auch beschreiben, die entstehen, wenn zum Beispiel Messen sich überlagern, bestimmte geistliche Dienste sich gegenseitig Konkurrenz machen. Insofern ist es, so vorzustellen, dass die Kathedralen immer voll waren, dass da auch die Töne, die Glocken, die Chorgesänge, dann später auch noch die Orgeln eine Schallkulisse erzeugt haben, die man sich mit den Lichteffekten und dieser kühlen Architektur im Zusammenwirken vorstellen muss.
Weber: Inwieweit können wir das denn heute überhaupt noch nachvollziehen? Nicht nur, weil uns der ganze Trubel da möglicherweise fehlt - jetzt ist da vielleicht ein touristischer Trubel aber nicht mehr diese intensive Nutzung, die es damals gab. Aber es fehlen uns ja ganz oft auch die Farben. Diese Kathedralen hatten zum Teil bunte Wände, zum Teil waren sogar die Außenwände bemalt. Wir haben jetzt eigentlich nur noch sowas wie die Gerippe vor uns. Können wir das eigentlich noch verstehen, was damals gemeint war und was für eine Ausstrahlung das hatte?
Freigang: Das ist tatsächlich schwierig. Wenn Sie sagen "Gerippe", das stimmt vor allem für die französischen Bauten, denn die haben durch verschiedene Schicksalsschläge ihre Ausstattung in den allermeisten Fällen verloren. Das geht los mit den Religionskriegen des 16. Jahrhunderts, aber dann hat die französische Revolution noch mächtig dazu beigetragen, diesen Vandalismus weiter fortzuführen.
Aber noch im 20. Jahrhundert hat man in vielen Fällen die Wandmalereien oder die farbigen Fassungen der Wände einfach abgekratzt, weil man gedacht hat, die steinerne, angeblich ursprüngliche Fassung, das wäre die reine Gotik. Insofern ist es tatsächlich so, dass wir es manchmal nur noch mit Skeletten und Gerippen zu tun haben.

In England wurde stilbewusst erneuert

Aber es gibt eine ganze Reihe von Bauwerken, die sehr gut erhalten sind. Das gilt insbesondere für England, denn dort hat man sich kontinuierlich mit dieser Ausstattung beschäftigt. Da ist zwar im 19. Jahrhundert vieles erneuert worden, aber mit einem unglaublich virtuosen Stilbewusstsein, sodass man heute manchmal nicht weiß, ist das jetzt 19. Jahrhundert oder ist es Mittelalter oder nicht? Aber auf jeden Fall, diese Ausstattung mit "gentry chapels", sozusagen freistehenden Kapellen in den Bauten, mit prächtigen Chorgestühlen und Altären, das kann man in England sehr gut studieren.
Es gibt einzelne Beispiele auch auf dem Kontinent, die ihre Ausstattung und auch ihre farbige Fassung sehr gut erhalten haben. Ein Beispiel ist die Valeria in Sitten in der Schweiz, die eine ganze Farborgie fast darstellt, wenn man da reingeht, mit sehr vielen Ausstattungsstücken.
Aber es stimmt, das ist ein Problem, diese Vielfältigkeit sich tatsächlich vor Augen zu führen, eine Vielfältigkeit im Übrigen, die sich auch zeitlich natürlich ständig ändert. Da kommt immer etwas dazu, wird auch wieder etwas herausgetan, verhüllt, die Lichteffekte sind ganz unterschiedlich. Nachts ist es natürlich dunkel, es leuchten nur einzelne Kerzenlichter. Dann wird es heller, die farbigen Fenster changieren. Das ist im zeitlichen Kontinuum eigentlich nie als jeweils identisch zu fassen.

Licht, um die Hostie zu sehen

Weber: Und hat sich da auch die Theologie niedergeschlagen in der Ausstattung über die Jahrhunderte? Es gab durchaus unterschiedliche Konzepte von katholischer Kirche und von Volksnähe oder geöffneten Fenstern beim Zweiten Vatikanum. Hat man sowas auch in der Ausstattung der gotischen Kathedralen verändert?
Freigang: Liturgische Form beeinflusst immer auch die Ausstattung. Wenn Anfang des 13. Jahrhunderts der Wunsch aufkommt und die Verpflichtung auch ausgesprochen wird, dass die Hostie zu sehen ist bei der Wandlung, dann führt das ja nicht nur dazu, dass der Priester die Hostie in die Höhe hält, sondern sie muss auch wirklich zu sehen sein. Das heißt, es darf nicht dämmrig dunkel sein, sondern es muss tatsächlich ein Licht da sein, was das auch sichtbar macht.
Wir haben zahlreiche Beispiele, wo so eine Art Fensteröffnungen in den Chorschranken beziehungsweise den Lettnern eingebracht werden, damit dieser Forderung Genüge getan wird. Das kann man weiterverfolgen, die Barockisierungen, dann die Regotisierungen im 19. Jahrhundert, teilweise die Vervollständigungen. Immer geht das zusammen mit theologischen Auffassungen, Diskursen um Religiosität und natürlich um Stil und Stilbewusstsein. Das geht bis heute.

Die französische Herkunft war vage bekannt

Weber: Also die Theologie spielt hinein. Spielt denn auch so etwas wie eine Nationalideologie mit hinein? Also, der Baustil kam aus Nordfrankreich, hat sich in verschiedenen Ländern Europas ausgebreitet. Das Verhältnis zwischen Frankreich und Deutschland war jahrhundertelang sehr stürmisch. Hat man versucht, sich da dann irgendwann von französischen Vorbildern abzusetzen, oder hat man sie anders interpretiert? Oder hat man irgendwann behauptet, eigentlich sei dieser Baustil urdeutsch?
Freigang: Eine komplizierte Geschichte. Man hat fast alles geglaubt im Laufe der Geschichte, aber dass es französisch sei, dieses gotische Bauen, da gibt es einige Hinweise schon aus dem Mittelalter selbst, dass das in irgendeiner Weise so konnotiert ist. Es gibt eine berühmte Quelle aus Bad Wimpfen im Tal, und da wird behauptet, einer der Baumeister habe es im "opus francigenum" errichtet. Wie das nun so üblich ist, da kann man jetzt darüber nachdenken, was eigentlich "opus francigenum" ist, aber es schwingt schon das Bewusstsein davon mit, dass dieser virtuose Stil oder diese virtuose Beherrschung der Technik irgendwie mit Frankreich zu tun hat.

Im 16. Jahrhundert galt die Gotik als geschmacklos

Aber in vielen Beispielen wirkt es eigentlich nur so als eine Konnotation, also nicht als ein historisches Wissen, sondern sozusagen als eine etwas vage Vermutung, die so belegt ist. Auch der Mailänder Dom, da gibt es im 15. Jahrhundert Expertisen, da kommt so etwas auf, und natürlich dann im 16. Jahrhundert, etwa bei Vasari, wird dann unter negativen Vorzeichen die Gotik als deutsch bezeichnet, als geschmacklos.
Tauben vor dem Mailänder Dom
Aber die Ästhetik der gotischen Prachtbauten war zeitweise durchaus umstritten, wie beispielsweise der Mailänder Dom. © imago / Eugenio Marongiu
Wenn wir das weiter verfolgen, gerade dann im 19. Jahrhundert, da entdeckt man insbesondere in Frankreich und in Deutschland die mittelalterliche Vergangenheit wieder, und auch die herausragenden Monumente. Dann kommt in diesem wahren Kulturkampf um nationale Deutungshoheit immer wieder die Idee auf, die gotische Architektur müsse entweder in Frankreich oder in Deutschland entstanden sein.
Historisch richtiggestellt wurde das erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts, dass es tatsächlich, wenn man an diesem Stilkomplex festhalten will und seine Ursprünge suchen will, dass man da vor allem in Nordfrankreich viele Indizien findet, die tatsächlich für eine Entstehung sprechen. Aber das hängt immer davon ab, wie man solche Epochen definiert, um dann im Weitergehenden solche Beeinflussungen zu verfolgen, die allerdings nicht den einzigen Weg der Forschung zur mittelalterlichen Architektur darstellen.
Weber: Sondern?
Freigang: Zum Beispiel der Zusammenhang zwischen Liturgie und Architektur, auch das Zusammenspiel mit anderen Künsten, also der Malerei oder aber auch der Musik oder der Glockentöne. All das kommt mehr und mehr in eine etwas komplexere Forschung über die gotische Bauarchitektur hinein.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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