Archäologie der Gegenwart

28.11.2011
Am Anfang stand ein Aufruf im Radio. Am 30. April 2002 wurden die Hörer gebeten, mitzuteilen, wie sie diesen Tag verbrachten. Hunderte von Zuschriften trafen ein. Das ist das alltagsweltliche Ausgangsmaterial, in dem Annett Gröschners Roman "Walpurgistag" wurzelt.
Diesen einen Tag schildert sie im Stundenprotokoll und fast im Minutentakt, und mit einer Fülle von Figuren, deren Lebenswege sich immer wieder kreuzen. Drei alte Frauen, eine türkische Mädchenbande, arbeitslose Schauspieler und schauspielernde Arbeitslose bewegen sich durch Berlin. Ein Taxifahrer mit wütenden Kopfschmerzen und ein Mann von der Gasag, der Kunden, die nicht zahlten, das Gas abdreht, sind die Figuren, die am weitesten herumkommen – abgesehen von dem kleinen Paul, der die Schule schwänzt und einen ICE besteigt.

"Walpurgistag" beginnt in demonstrativer Döblin-Nachfolge auf dem Alexanderplatz. Und als wäre das noch nicht genug, sitzt da ein Obdachloser an der Weltzeituhr, der ausgerechnet Alex heißt. Er trägt einen schweren Rucksack mit sich herum, in dem er Romanfiguren wie Puppen versenkt und bei Bedarf wieder hervorholt. Er ist also vielleicht der allwissende Erzähler, der Deus ex machina oder der Geist der Stadt – und ein deutlicher Hinweis darauf, dass "Walpurgistag" die Realität spielerisch überschreitet. Das Dokumentarische und das Fantastische sind hier keine Gegensätze. Sie stützten und stärken sich gegenseitig. Auch Annja Kobe, die Hauptfigur aus Gröschners Debütroman "Moskauer Eis", taucht wieder auf: Immer noch bewacht sie ihren Vater, der zu Eis gefroren in der Tiefkühltruhe liegt, und wird als vermeintliche Vatermörderin von der Polizei gesucht. Der Vater aber wartet eiskalt und jenseits aller physikalischer Wahrscheinlichkeiten auf eine gerechte Gesellschaft, in der die Mühe der Wiederauferstehung sich lohnen könnte.

Berlin ist durch Milieus zu beschreiben und eher durch die Grenze zwischen arm und reich, oben und unten, Insidern und Ranschmeißern, Ureinwohnern und Zugezogenen als durch die alte Grenze zwischen Ost und West. Die wird in "Walpurgistag" systematisch und problemlos überschritten. Es ist ein proletarisches, sympathisches, manchmal auch ein bisschen klischeehaftes Berlin, das hier lebendig wird. Es gibt wohl keine andere Autorin als die in Magdeburg geborene Annett Gröschner, die sich auch abseits der üblichen Trampelpfade so gut in der Stadt auskennt.

Als Archäologin der Gegenwart hat sie eine besondere Vorliebe für das Vergängliche. Das belegen all die Bücher, die sie in den letzten 20 Jahren publiziert hat. Dabei bewegte sie sich vorwiegend auf dem Gebiet der ehemaligen DDR, das an Untergängen und Verschwindendem so reich ist. Das Atomkraftwerk Rheinsberg, der 1. FC Magdeburg, alte Frauen aus Prenzlauer Berg, die S-Bahn und die Berliner Mauer waren Gegenstände ihrer Recherchen. Das Besondere an ihrer Arbeit besteht darin, dass ihre Geschichtsforschung sich immer in Geschichten vollzieht. Schon deshalb drängt das Dokumentarische über die bloße Darstellung hinaus und hin zum Erzählen.

Als versierte Dokumentaristin weiß Annett Gröschner um die Flüchtigkeit der Zustände. Im Neubau erahnt sie die zerfallende Ruine und erinnert sich zugleich daran, was zuvor an der selben Stelle stand. Jeder Augenblick wird bei ihr transparent, weil er durch ihr Geschichtsbewusstsein hindurchgeht. Sie begreift, was sich gerade ereignet, als historisches Phänomen. Deshalb ist sie immer rechtzeitig zur Stelle. Auch wenn der Roman 24 Stunden lang reine Gegenwartskunde betreibt und im Präsens dicht am Geschehen bleibt – so wie ein Dokumentarfilmer mit der Kamera –, ist das, was entsteht, inklusive der Feuerrituale der Walpurgisnacht, selbst schon wieder Geschichte. Wer in Zukunft einmal wissen will, wie Berlin zur Jahrtausendwende gewesen ist, wird hier nachlesen müssen.

Besprochen von Jörg Magenau

Annett Gröschner: Walpurgistag. Roman
DVA, München 2011
448 Seiten, 21,99 Euro
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