Arbeitsplatz Gedenkstätte Bergen-Belsen

Geschichte als Auftrag und Verantwortung

11:14 Minuten
Gedenkstein in der Gedenkstätte für das Konzentrationslager Bergen-Belsen in Niedersachsen
In menschliche Abgründe geblickt, aber auch immer wieder erfahren, wozu Menschen im positiven Sinne fähig sind: Erfahrung eines Mitarbeiters in der Gedenkstätte Bergen-Belsen. © imago images / imagebroker / Manfred Vollmer
Von Ita Niehaus · 28.09.2020
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Schätzungsweise 120.000 Männer, Frauen und Kinder wurden in das Konzentrationslager Bergen-Belsen in der Lüneburger Heide verschleppt, viele von ihnen starben. Seit 1952 ist der Ort eine Gedenkstätte. Wie ist es, an einem solchen Ort zu arbeiten?
Mittagszeit in der Gedenkstätte Bergen-Belsen. Momentan sind nur wenige Besucher in der Ausstellung im ersten Stock des Dokumentationszentrums. Einige schauen durch das große Panoramafenster auf das ehemalige Lagergelände - auf den ersten Blick eine parkähnliche Landschaft. Im Hintergrund läuft ein Video, in dem eine Zeitzeugin über ihr Leben vor der Zeit im Konzentrationslager berichtet.
Im Erdgeschoss befinden sich Besucherinformation, Cafeteria und ein Buchladen. Mit Tagebüchern von ehemaligen Gefangenen, Sach- und Fachliteratur und Jugendbüchern.
Hier arbeitet seit zwölf Jahren auch Helga Diedler. Nach einer langen Familienphase war die ehemalige Bankangestellte damals auf der Suche nach einer neuen sinnvollen Aufgabe.
"Ich habe eine behinderte Tochter. Wenn sie zu der Zeit auf die Welt gekommen wäre, hätte man sie nicht leben lassen. Das war für mich auch ein Aspekt, dass ich gesagt habe, wie wichtig es ist, dass noch mehr aufgearbeitet wird, noch mehr Informationen weitergegeben werden."

Anne Frank und ihre Schwester wurden hier umgebracht

Auch wenn in Bergen-Belsen, anders als etwa in Auschwitz, keine Gebäude und Baracken des Konzentrationslagers mehr erhalten sind: Die 64-Jährige vergisst nie, dass sie an einem ganz besonderen Ort beschäftigt ist: "Wo das Schreckliche wirklich passiert ist."
Am meisten belaste es sie, "wenn Angehörige die Namen der Angehörigen, die hier verstorben sind, im Gedenkbuch finden und dann in Tränen ausbrechen". Da müsse man einen gewissen Abstand halten können, denn es hilft nichts, aus Sympathie mitzuweinen. "Was es mit mir macht, muss ich hinterher mit mir selbst ausmachen oder ich spreche zu Hause mit der Familie drüber, damit man das verarbeiten kann."
Schätzungsweise 120.000 Männer, Frauen und Kinder wurden in das Konzentrationslager Bergen-Belsen verschleppt. Viele von ihnen starben durch Terror, Hunger und an Krankheiten. Zu den bekanntesten Opfern zählen Anne Frank und ihre Schwester Margot. Das historische Lagergelände ist nicht bebaut worden. Wo heute das Verwaltungsgebäude der Gedenkstätte steht, war früher Wald.

Die Großeltern waren vom Nationalsozialismus überzeugt

Etwa 30 festangestellte Mitarbeiter sind in der Gedenkstätte beschäftigt. In den Abteilungen "Forschung und Dokumentation" oder "Bildung und Begegnung". Rund 40 Honorarkräfte betreuen normalerweise als Guides Schulklassen und Besuchergruppen. Doch die sind zurzeit wegen der Coronapandemie nicht erlaubt. Hinzu kommen noch Kolleginnen und Kollegen, die in Projekten arbeiten.
"Hier platzt alles aus den Nähten, obwohl zwei Drittel unserer Leute im Homeoffice arbeiten", sagt der Historiker Jens-Christian Wagner. Er leitet nicht nur die KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen, er ist auch Geschäftsführer der Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten.
Jens-Christian Wagner, Leiter der Gedenkstätte Bergen-Belsen, steht am 20.04.2017 im Forum der KZ-Gedenkstätte in Bergen-Belsen in Niedersachsen in der Ausstellung "Roter Winkel. Politische Häftlinge im KZ Bergen-Belsen".
Ausstellungen anbieten, aber auch in die Gesellschaft hineinwirken: das Motto von Jens-Christian Wagner, dem Leiter der Gedenkstätte Bergen-Belsen.© picture alliance / dpa / Holger Hollemann
Warum er sich für diesen beruflichen Schwerpunkt entschieden hat? Mehrere Gründe haben eine Rolle gespielt, sagt der 54-Jährige. Ein großes Interesse an Geschichte natürlich, stark geprägt habe ihn, dass er einen Teil der Kindheit während der Pinochet-Diktatur in Chile verbracht habe. Wichtig sei auch während des Studiums in Göttingen, nach der Wiedervereinigung, die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem KZ Mittelbau-Dora gewesen. Und noch etwas käme hinzu:
"Die Großeltern waren überzeugte Nationalsozialisten. Das Interesse an diesem Thema hat sicherlich auch mit Diskussionen in der Familie über Verstrickung zu tun. Das waren keine Hardcore-Täter, sondern ganz normale vom Nationalsozialismus begeisterte Deutsche, im Grunde eine ganz normale deutsche Familie."

Das historische Bewusstsein in der Gesellschaft stärken

Kontakte mit Überlebenden, Besprechungen mit Kolleginnen und Kollegen über neue Projekte oder Besucherformate in den sozialen Medien - kein Arbeitstag gleicht dem anderen. Gedenkstättenarbeit muss, so Wagner, vor allem glaubwürdig sein und auf wissenschaftlich seriösen Grundlagen beruhen. Sie ist für ihn aber auch eine politische Aufgabe.
"Ich bin wirklich überzeugt davon, dass Gedenkstättenarbeit das Ziel haben muss, historisches Bewusstsein in der Gesellschaft zu stärken." Das könne sich nicht nur darauf beschränken, dass Menschen in die Gedenkstätte kommen und sich die Ausstellung anschauen. "Wir müssen auch in die Gesellschaft hineinwirken."

Eine gewisse Form von professioneller Distanz

An der Wand im Büro hängen Plakate von Ausstellungen mit Fotos von KZ-Häftlingen. Jeden Tag wird der Gedenkstättenleiter mit Leid und Tod konfrontiert. Er habe, wie die meisten Kollegen, eine gewisse Form von professioneller Distanz aufgebaut.
"Die Geschichte, das Thema, mit dem wir es zu tun haben, ist ein zutiefst trauriges - und trotzdem habe ich Freude an meiner Arbeit, was vielleicht etwas paradox klingen mag."
Wenn eine neue Ausstellung gut gelungen ist zum Beispiel. Wagner hat im Laufe der Jahre nicht nur in menschliche Abgründe geblickt, der Gedenkstätten-Leiter hat auch immer wieder erfahren, wozu Menschen im positiven Sinne fähig sind.
"Begegnungen mit Überlebenden: Wenn ich sehe, wie viel Lebensfreude mir zum Teil entgegenspringt, dann ist das auch eine sehr tröstende Einsicht. Zu sehen, dass wir auch mit Freude durch das Leben gehen können, ohne die Geschichte des Nationalsozialismus, das Verbrechen und das destruktive Potenzial der menschlichen Existenz zu verleugnen."

War der Opa Aufseher?

Viele Mitarbeiter, wie etwa Helga Diedler, beobachten, dass immer öfter Besucher kommen, die sich mit ihrer Familiengeschichte im Faschismus auseinandersetzen:
"Jetzt räumen wir gerade den Nachlass auf und dann habe ich einen Brief meines Opas gefunden, mit Absender Bergen-Belsen. War er jetzt in der Kaserne oder war er wirklich zum Beispiel als Aufseher im Konzentrationslager? War mein Großvater einer der Täter? Ich kenne ihn nur als liebevollen Opa und dann finde ich einen Brief aus Bergen-Belsen. Ja, das wirft Fragen auf."
Die Antworten auf diese Fragen zu akzeptieren, ist für manchen Besucher nicht einfach. Die große Mehrheit der Deutschen glaubt immer noch - so eine aktuelle Studie der Uni Bielefeld - das ihre Familie nicht unter den Tätern gewesen sei.

Bei Rassismus nicht stillhalten

Und: Antisemitismus, Rassismus, und Provokationen von rechter Seite nehmen zu in Deutschland. Das ist auch in der Gedenkstätte Bergen-Belsen zu spüren. Anfang des Jahres etwa wurde Jens-Christian Wagner im Internet beleidigt und bedroht, nachdem er die AfD kritisiert hatte. Wagner ist Gegenwind gewohnt, hat sich nie davor gescheut, klar Position zu beziehen.
Das will er auch in Zukunft so halten, wenn er im Oktober als Professor an die Uni Jena wechselt und Chef der thüringischen Gedenkstätten wird: "Es wäre doch hochgradig merkwürdig, wenn wir uns einerseits mit der Geschichte des Nationalsozialismus auseinandersetzen, der breiten Mit-Mach-Bereitschaft der deutschen Bevölkerung im Nationalsozialismus und der bei vielen damals fehlenden Zivilcourage, und wir dann stillhalten, wenn wir mit heutigem Rassismus und Antisemitismus konfrontiert werden."

Die Mahnung der Zeitzeugen

Wenige Schritte entfernt sitzt Celina Imme am Computer in einem Büro. Die 19-jährige Abiturientin aus Hannover verbringt ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ), hier. Sie hat Veranstaltungen und Bildungsprojekte mit vorbereitet, Gruppen durch die Gedenkstätte geführt, gemeinsam mit einer anderen FSJ-Freiwilligen ein Recherche-Projekt betreut und dabei unter anderem gelernt, wie viel wissenschaftliche und pädagogische Arbeit dahinter steckt, um so einen Besuch zu ermöglichen.
Ein Erlebnis hat Celina Imme während ihres Freiwilligen Sozialen Jahres besonders beeindruckt. Bei der Internationalen Jugendbegegnung des Deutschen Bundestags hat sie Auschwitz besucht und Zeitzeugen getroffen:
"Die Zeitzeugen haben immer wieder betont: 'Es gibt nicht mehr so viele von uns, bitte, bitte tragt doch diese Erinnerungen und unsere Geschichte weiter, vergesst das nicht. Ihr seid jetzt in der Verantwortung, das weiterzuführen, wenn wir es nicht mehr können.'"

Nichts mehr für selbstverständlich halten

Heute ist Celina Immes letzter Tag. Die Jugendliche hat sich entschieden, Geschichte zu studieren. Sie kann sich gut vorstellen, später einmal in einer Gedenkstätte zu arbeiten.
"Vor allem in der heutigen Zeit, was politisch alles vor sich geht." Da finde sie es "superwichtig, dass diese Orte existieren, um zu zeigen, so ist es einmal passiert." Und auch: "Was hindert uns daran, dass es nicht noch mal passiert?"
Helga Diedler hat sich durch die Zeit in Bergen-Belsen auch persönlich verändert. Sie schweigt nicht länger, wenn jemand eine rassistische oder antisemitische Bemerkung macht. Und sie hält nichts mehr für selbstverständlich - weder den gefüllten Kühlschrank zu Hause, noch den deutschen Rechtsstaat. Was sie nach wie vor motiviert: die vielen Begegnungen und Gespräche.
"Wenn ein Besucher kurz aus der Ausstellung kommt, den Kopf bei uns in den Laden steckt und sagt 'Vielen Dank für ihre Arbeit, machen Sie so weiter' - dann ist unsere Arbeit richtig."
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