Arabischer Frühling hatte "schlichtweg mit Religion nichts zu tun"

Sigrid Faath im Gespräch mit Philipp Gessler · 20.10.2012
Der Pluralismus werde von islamistischen Parteien in keinem Fall als normal respektiert und geduldet, meint Sigrid Faath. Für die Politologin ist es ein Paradox, dass islamisch geprägte Gesellschaften überhaupt noch weiter "islamisiert" werden sollen.
Ralf Bei der Kellen: Als im vergangenen Jahr der Arabische Frühling die Staaten im Norden Afrikas und im Nahen Osten erfasste, ging in Europa auch die Angst um, dass dort im Zuge der Revolutionen islamistische Kräfte an die Macht gelangen könnten. Anfang dieser Woche stellte die Konrad-Adenauer-Stiftung eine Studie vor mit dem Titel "Islamische Akteure in Nordafrika". In ihr werden die unterschiedlichen politischen und religiösen Kräfte in den einzelnen Ländern vorgestellt und beurteilt. Besonderes Augenmerk lag dabei auf den islamistischen Parteien und deren Versuchen – wie es auf der Homepage der CDU-nahen Stiftung formuliert ist –, die Islamisierung der Gesellschaft nach ihrer Interpretation von Religion voranzutreiben.

Herausgeberin der Studie ist die Politikwissenschaftlerin Dr. Sigrid Faath. Mein Kollege Philipp Gessler hat vor der Sendung mit ihr gesprochen und wollte zunächst von ihr wissen, warum die islamistischen Gruppen bei den Umbrüchen selbst anfänglich keine Rolle gespielt haben.

Sigrid Faath: Die Ursachen für die Proteste, die in Tunesien, Ägypten und Libyen 2011 zu diesen großen politischen Umbrüchen führten, hatten schlichtweg mit Religion nichts zu tun. Sie waren sozialer und politischer Art. Es ging um Arbeitslosigkeit, fehlende berufliche Perspektiven für junge Leute, Armut in den Regionen des Landesinnern oder in Teilregionen des Landes, um fehlende Freiheiten. Das waren die Ursachen.

Philipp Gessler: Anders als in Algerien sind in Tunesien, in Marokko und in Ägypten die Islamisten in den Parlamenten auf jeden Fall die stärkste Fraktion. Ihr Ziel ist Ihrer Studie zufolge die Islamisierung der Gesellschaft. Was bedeutet das eigentlich?

Faath: Es ist natürlich ein Widerspruch, wenn wir das sehen, dass einerseits diese Region vom Islam geprägt ist, islamische Kultur, islamische Zivilisation. Die Hauptreligion der Mehrheitsbevölkerung, das ist eben der Islam, in diversen Ausprägungen, aber immerhin, Islam ist die Religion, Staatsreligion auch in diesen Staaten. Und wie kann man dann eben, ist die Frage, überhaupt islamisieren wollen? Islamisierung heißt für diese spezifischen Gruppen, dass sie ihre spezifische, fundamentalistische Religionsinterpretation und ihren fundamentalistischen Werte- und Normenkanon verbreiten wollen. Und der unterscheidet sich eben von dem offeneren, liberaleren Islam, der mehrheitlich eigentlich gelebt wird.

Gessler: Das Erstaunliche, was Sie ja unter anderem in Ihrer Studie festgestellt haben, ist die Tatsache, dass gerade die islamistischen Gruppen effektiver und effizienter arbeiten als die eher liberalen und säkularen Organisationen. Wie ist das denn zu erklären?

Faath: Nun, zum einen ist das damit zu erklären, dass die Bevölkerungen eben vom Islam geprägt sind. Also auch, es sind durchaus auch religiöse Bevölkerungen. Die Religion spielt immer noch eine sehr große Rolle. Und liberale und säkulare Ansichten gelten in der Regel als Ansichten, die gleichzusetzen sind mit Gottlosigkeit, Religionslosigkeit. Und das ist in solchen konservativ geprägten Gesellschaften natürlich ein zunächst mal negativer Faktor. Liberale und Säkulare sind deswegen auch Minderheiten, wenn Sie so wollen, in diesen Gesellschaften.

Und das ist ein ganz wichtiger Grund, warum eben auch im Vergleich zu liberalen und säkularen Parteien solche, die eine religiöse Referenz haben, die sich eben auf diese religiösen Traditionen berufen, ein gutes Ansehen haben zunächst. Und der zweite Grund ist, dass natürlich islamistische Parteien im Gegensatz zu jenen, die liberal verortet sind, einem strikten Führerprinzip folgen. Das heißt, Parteidisziplin ist da ganz groß geschrieben. Sie sind hierarchisch organisiert, die Mitglieder sind zu einer Art Gehorsam auch verpflichtet.

Gessler: Jetzt verkünden ja die meisten islamistischen Führer gerade in der Politik in den einzelnen Ländern, dass sie gewaltlos die Veränderung der Gesellschaften wollen. Sie sind da recht skeptisch und sagen, das Verhältnis ist dann doch zu gewaltambivalent. Erklären Sie uns das bitte.

Faath: Die heute legal Aktiven, die islamistischen Parteien haben Gewalt abgeschworen in dem Sinne, dass sie sagen, wir wollen den Weg durch die Institutionen gehen, also, wir akzeptieren Wahlen insofern, als wir an ihnen teilnehmen. Wir wollen nicht den gewaltsamen Weg an die Macht durch Putsch. Aber es gibt ja noch andere Formen von Gewalt und da wird es eben etwas problematischer. Deswegen bin ich skeptisch, wenn diese Gewaltlosigkeit so stark in den Mittelpunkt gestellt wird.

Und zwar können Sie beobachten, dass zahlreiche islamistische Vereinigungen dieses rigideren salafistischen islamistischen Spektrums, die zwar betonen, sie wollen durch Überzeugungsarbeit die Bevölkerung eben zum Umdenken und zur Abstimmung zugunsten der Islamisten bewegen, also, diese Gesellschaft auf diese Weise islamisieren, dass diese in der Praxis durchaus aggressiv auftreten, drohen, auch zum Teil ganz massiv Gewalt gegen anders Denkende umsetzen, deren Prediger auch oftmals zu Gewalt gegen Andersdenkende aufrufen und einige auch eine Art Sittenpolizei, in Anführungszeichen, aufstellten, die also bei Vergehen in ihren Augen gegen die guten Sitten auch mit Gewalt gegen solche Personen, die sie dann herausgreifen, auftreten.

Gessler: Sie schreiben, zugleich mit diesem islamistischen Konzept dieser Gruppen in Nordafrika sei keine freiheitliche Ordnung realisierbar. Wie kommen Sie zu dieser Ansicht?

Faath: Wenn Sie das Staats- und Gesellschaftsmodell, das von diesen Parteien oder Vereinigungen angestrebt wird, anschauen, dann sehen Sie, dass es ein strikt autoritär strukturiertes Gesellschaftsmodell ist, das hierarchisch aufgebaut ist. Religion und Politik werden als Einheit gesehen und die Interpretation der Religion ist eben eine extrem strikte. Das heißt, die Normen und Werte, die zugrunde gelegt werden, werden als unantastbar gesehen. Das heißt, die Religion hat immer recht, ganz einfach ausgedrückt. Alle sollen unter diese Werte gezwungen werden, sollen danach leben. Man versucht eben, in diesem Sinne die Gesellschaft auch umzuformen, also dass sie diesem Modell entspricht.

Und das bedeutet auch, dass, wenn dieses religiöse Recht, wie es eben Fundamentalisten interpretieren, umgesetzt wird, dass unter anderem eben auch die tatsächliche Gleichstellung der Geschlechter nicht mehr gegeben sein kann, weil sie eben eine andere Interpretation haben – das würde jetzt hier zu weit führen, das auszuführen –, dass zum Beispiel auch Glaubens- und Meinungsfreiheit nicht gewährleistet ist. Denn die Wahrheit besitzen sie. Sie dulden also auch keine Pluralität der Meinungen, Minderheitenrechte werden eingeschränkt, egal ob das jetzt um religiöse Minderheiten geht, um ethnisch-linguistische … Pluralismus wird in keinem Fall eben als normal respektiert und geduldet. Und deswegen würde ich behaupten: Unter solchen Vorgaben sind eben keine freiheitlichen Ordnungen in diesen Staaten möglich, wenn diese islamistischen Organisationen, Parteien, eben die Vorgaben vollends alleine bestimmen würden.

Gessler: Nun ist ja die regierende Partei in der Türkei, die AKP von Ministerpräsident Erdogan, auch islamistisch und hat alles in allem dann doch einen relativ westlichen, säkularen Kurs gefahren. Warum haben Sie da für Nordafrika so wenig Hoffnung?

Faath: Die Situation in der Türkei ist eine ganz andere. Sie haben ein starkes Militär, das eben Grenzen setzt und das, würde ich mal sagen, der AKP nach wie vor noch Grenzen setzt. Wir müssten beobachten, wie sich die AKP verhält, wenn eben diese Gegenmacht nicht mehr da wäre, und wir dürfen auf keinen Fall auch übersehen, dass ja auch die AKP oder ihr nahestehende Vereinigungen Basisarbeit leisten, um auch in ihrem Sinne die Islamisierung der Gesellschaft voranzutreiben.

Gessler: Am Ende fragt man sich natürlich: Wenn tatsächlich in Nordafrika die Islamisten prägend werden in den nächsten Jahren oder vielleicht Jahrzehnten, warum sollte uns das eigentlich in Europa belasten?

Faath: Die Europäer oder bleiben wir bei Deutschland: Die deutsche Außenpolitik wird immer als wertegeleitet bezeichnet. Das heißt, Demokratie, Freiheit, Universalität der Menschenrechte sind eben die Leitlinien und werden auch vorgegeben als Werte, die eben durch die Außenpolitik durch Kooperation, in Kooperation miteinander unterstützt werden soll. Und wenn wir aber glaubwürdig sein wollen und dieser Diskurs eben nicht nur vorgeschoben ist, dann muss es uns kümmern, wenn Parteien an die Macht kommen oder sich an der Macht halten, die dann effektiv genau solche Freiheiten beschneiden. Zumal es sich dann auch um ein Beschneiden von Freiheiten handeln würde, die eben auch die Initiatoren der Proteste, wie ich schon sagte, 2011 eigentlich forderten und für die sie auch auf die Straße gingen.

Gessler: Vielen Dank, Frau Dr. Faath, für das Gespräch, alles Gute.

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