Arabische Welt hat "Individuum entdeckt"

Tahar Ben Jelloun im Gespräch mit Andreas Müller · 09.09.2011
Man habe von den arabischen Intellektuellen lange nichts hören wollen, entschuldigt der französisch-marokkanische Schriftsteller Tahar Ben Jelloun seine Generation. Aus der gegenwärtigen "Revolte der Jugend" lernten die sogenannten "alten Intellektuellen" sehr viel, und verfolgten sie mit Interesse und Sympathie.
Andreas Müller: Er gilt als einer der wichtigsten französischsprachigen Autoren. Der Marokkaner Tahar Ben Jelloun war der erste Schriftsteller aus dem Maghreb, der mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet wurde. Als junger Mann war er wegen seines Protestes gegen die repressiven Strukturen in seinem Heimatland in ein Militärlager zwangsrekrutiert worden und nach fünf Jahren schaffte er es, nach Paris ins Exil zu gehen.

Derzeit ist er zu Gast beim Internationalen Literaturfestival in Berlin. Erst kürzlich erschien sein Buch "Arabischer Frühling" und dafür wurde ihm der Friedenspreis der Stadt Osnabrück zuerkannt. Der ehemalige Vorzeigeoppositionelle musste sich in diesem Zusammenhang allerdings den Vorwurf gefallen lassen, er sei ein Trittbrettfahrer und habe zum Beispiel eine zu große Nähe zum derzeitigen marokkanischen König.

Jetzt ist Tahar Ben Jelloun bei uns zu Gast. Guten Tag! In Ihrem Roman haben sie die Erfahrungen der Repression und der ins Exil Getriebenen immer wieder verarbeitet. Welche Bedeutung hatte die Erfahrung des Scheiterns einer Oppositionsbewegung für Ihr Schreiben.

Tahar Ben Jelloun: Bei mir war es eigentlich der Beginn des Schreibens, weil wir waren damals 94 Studenten, die zu fünf Jahren Militärlager verurteilt worden sind. Wir wurden dort sehr schlecht behandelt. Und ich fing an, heimlich zu schreiben. Und das war für mich eine Form der Befreiung. Ich wusste ja gar nicht, wie lange ich da bleibe und ob ich jemals da wieder herauskomme, und das hat mir damals auch so ein bisschen das Leben gerettet, dass ich anfing zu schreiben. Ich kann also gar nicht sagen, ob ich überhaupt angefangen hätte zu schreiben ohne diese Erfahrung.

Müller: Nun erleben wir also den sogenannten arabischen Frühling, fast 50 Jahre später, offensichtlich auch mit mehr Schlagkraft. Sie haben ja ein kleines Buch darüber geschrieben, in dem Sie auch immer wieder Brücken in die Vergangenheit schlagen, an frühere Proteste erinnern. Was ist diesmal anders gelaufen?

Ben Jelloun: Nun, ich denke, es hat einen Reifeprozess der Wut gegeben. Es ist ja keine Revolution, es war eine Revolte, es war ein Aufstand. Es war, weil man die Leute so lange gedemütigt hat, bis sie auf die Straße gegangen sind und nein gesagt haben, basta, jetzt reicht es. Und man hatte in der arabischen Welt lange das Gefühl, dass man verflucht war. Alle hatten ein wenig resigniert, und da ist eine Art Weckruf geschehen, den niemand erwartet hat. Das ist praktisch der Selbstmord eines Tunesiers, der der Funken wurde dafür – und der Rhythmus der Geschichte ist manchmal auch einfach ganz anders als der Rhythmus der Medien.

Müller: Es gibt, gab Kritik an den Intellektuellen, an gestandenen älteren Intellektuellen, die angeblich geschwiegen haben angesichts der Proteste. Die verteidigen Sie in Ihrem Buch "Arabischer Frühling". Welche Rolle haben Sie und andere Vertreter der Intellektuellen gespielt für das, was wir in den letzten Monaten erlebt haben.

Ben Jelloun: Nein, es war ein bisschen was anderes. Man hat arabischen Intellektuellen ja immer vorgeworfen, sich nicht zu äußern, sich nicht zu melden. Was ich meinte, war, man hat ihnen auch gar keine Möglichkeit dazu gegeben. Beispielsweise während des ersten Golfkrieges haben ein Dutzend von Intellektuellen – in Paris sehr bekannte arabische Intellektuelle – einen sehr, sehr wichtigen Artikel geschrieben. In diesem Artikel haben wir uns gegen Saddam Hussein gewandt, wir haben uns aber auch gegen die US-Invasion gewandt und haben diesem Artikel der "New York Times" vorgelegt. Das ist abgelehnt worden. Die wollten das nicht drucken, weil es einfach nicht den Erwartungen des amerikanischen Publikums entsprach. Und so etwas ist öfter passiert. Und man hat uns dann auch nicht gefragt. Ich kann mich ausdrücken, weil ich sehr oft in "Le Monde" schreibe, aber das ist nicht bei allen Schriftstellern so, und deswegen ist es einfach so: Man hat uns nicht gehört, weil man uns auch nicht gefragt hat.

Müller: Im Deutschlandradio Kultur ist der marokkanisch-französische Schriftsteller Tahar Ben Jelloun zu Gast. Der arabische Frühling ist jung, basiert auf der Nutzung der neuen Medien. Was haben die alten, gestandenen Intellektuellen den jungen zu bieten? Manchmal hat man ja das Gefühl, diese Revolte, sie gehöre der jüngeren Generation.

Ben Jelloun: Ja, Sie haben durchaus recht. Es ist eine Revolte der Jugend, das ist eine Revolte, die in die heutige Zeit auch passt, eine ganz moderne Zeit, und wir sogenannten alten Intellektuellen, wir lernen sehr viel daraus, und wir verfolgen das auch mit einem großen Interesse, auch natürlich mit Sympathie, aber wir sind auch schon in der Lage, eine Analyse zu liefern. Wir haben einfach auch mehr Erfahrung. Wir wissen auch, dass eine Revolte, dass ein Umsturz nicht zwingend dazu führt, dass am nächsten Morgen die Demokratie in der arabischen Welt sofort erreicht wird.

Und damit man diese Demokratie erreichen kann, braucht es Zeit, es braucht Kultur und es braucht auch Pädagogie. Und vielleicht wird es noch eine Generation dauern, bevor man den Traum einer Demokratie im arabischen Raum wirklich erreichen kann. Und sehr, sehr viele junge Menschen sind nun auch enttäuscht, sind ungeduldig. Die wollen sofortige Änderungen und können es nicht so recht abwarten, und wir Alten sind ein bisschen dafür da, um ihnen zu sagen: Macht weiter, Geduld, das braucht Zeit.

Es ist ganz sicher, dass gewisse Formen von Diktaturen, wie die Diktatur von Gaddafi, von Ben Ali, von Mubarak und wahrscheinlich auch von Assad, dass das vorbei ist. Diese Epoche ist wirklich vorbei, das wird so in dieser Form auch nicht weitergehen, und es ist auch wirklich ein neuer Geist entstanden, das muss man wirklich sagen. Und der besteht vor allen Dingen darin, dass man in der arabischen Welt den Einzelnen, das Individuum entdeckt hat. Vorher war es so, dass man immer das Volk gesehen hat, das man irgendwie in einem Clan gesehen hat, gewisse Gruppen gesehen hat, und heute sieht man erstmalig auch den Einzelnen.

Müller: In so einer volatilen Situation, in der auch viel Frustration in diesen jungen Gesellschaften vorhanden ist, welche Rolle könnten da die Islamisten spielen, die ja häufig eine schnelle Befriedigung der vielen Wünsche, die sich in den vergangenen Jahren dort aufgestaut haben, versprechen?

Ben Jelloun: Vielleicht drei Punkte zu den Islamisten, der erste: Sie waren vollkommen überrascht von dieser Bewegung, das hat sie sozusagen – die haben das weder initiiert, noch haben sie das begleitet. Es ging auch ihnen zu schnell, sie konnten damit gar nichts anfangen. Zweitens: Man muss sehen, dass die Islamisten in der arabischen Welt tief gespalten sind. Es gibt eine neue und eine alte Generation, und die sind sich überhaupt nicht einig. Drittens: Das Volk in Tunesien, Ägypten, oder auch im Jemen beispielsweise hat das ja nicht für den Islam oder für eine Religion gemacht, sondern es ging eher um universelle laizistische Werte wie Freiheit, wie Würde, wie Respekt vor den anderen, und das ist entstanden aus dieser starken Demütigung, die sie so lange erfahren haben.

Weiter ist wichtig zu sagen, man hat es auch nicht gegen den Westen, gegen Israel oder gegen den Kolonialismus gemacht, sondern für etwas und um dieser Demütigung zu entfliehen. Das sind also allgemeine Werte, und deswegen werden die Islamisten ihren Platz finden darin, aber nach demokratischen Gesetzen und nicht unbedingt, weil sie so gute Demagogen sind, und weil sie es schaffen, dem Volk falsche Versprechungen zu machen.

Man muss dazu sagen, in Europa hat man diese Regimes sehr lange unterstützt, weil man davon ausging, dass sie einen Schutzwall gegen den radikalen Islamismus bilden, und das war komplett falsch. Weil gerade in Tunesien und auch in Ägypten unter dem Deckmantel, Islamisten oder auch "Terroristen" zu verfolgen, hat man Linke eingesperrt, hat man Intellektuelle eingesperrt, hat man Atheisten eingesperrt, sie wurden dort gefoltert, und all das wusste man in europäischen Ländern, das war alles bekannt, aber man hat diese Diktaturen dennoch unterstützt. Und wie sich jetzt herausgestellt hat, hat zum Beispiel der französische Geheimdienst mit dem libyschen Geheimdienst kooperiert.

Und diese Islamisten haben, wenn eine wirkliche Demokratie im arabischen Raum entsteht, auch keine Chance mehr, weil das ja dann auch eine Demokratie ist, wo sich der Einzelne ausdrücken kann, wo es um das Individuum geht. Und jeder darf seine Religion natürlich ausüben, aber was absolut intolerabel ist, ist, wenn sie bei dir ins Haus kommen, dir sagen, wie du dich anzuziehen hast, wie du zu leben hast, welche Regeln du zu verfolgen hast – dieser Fanatismus, der dadurch entsteht, den darf man nicht tolerieren, und der ist nur dadurch zu bekämpfen mit dem Aufbau einer echten Demokratie.

Müller: Kommen wir noch einmal auf Marokko zu sprechen, dort gab es zu Beginn des arabischen Frühlings Proteste, jetzt ist es eher still. Inwieweit glauben Sie, dass der arabische Frühling am Ende auch Marokko verändern wird, und welche Rolle könnte der König Mohammed VI. spielen, von dem ja Kritiker sagen, Sie würden viel zu positiv über ihn schreiben.

Ben Jelloun: Nun, ich versuche nur, objektiv zu sein. Ich habe seinen Vater gekannt, und ich weiß, was in der Zeit an Repressionen möglich war, und den Sohn habe ich bewundert, weil als er an die Macht kam, hat er sofort sehr, sehr mutig 1998 erst einmal einen neuen Code für die Familie aufgestellt. Zum Beispiel sind die Rechte der Frauen ausgeweitet worden. Dann hat er 29.000 Geheimdossiers öffentlich gemacht über politisch Verfolgte. Es hat Zahlungen gegeben, Wiedergutmachungszahlungen. Es ist überhaupt auch eine Infrastruktur erst mal geschaffen worden in Marokko, die es so vorher nicht gab.

Und diese neue Bewegung des 20. Februars, die treffen sich nach wie vor jeden Sonntag, können auf die Straße gehen – es gibt eine Form von Meinungsfreiheit einfach auch in Marokko, und das hat es so vorher nie gegeben. Allerdings muss man eben auch sagen, man muss auch auf diesen sozialen Frieden achten, und da sind eben auch Aspekte, die kritisiere ich. Also, ich sehe schon die positiven Aspekte dieses Regimes, aber was ich auch in meinem Buch sehr angreife, ist zum Beispiel diese fürchterliche Korruption, die wir im Land haben, die ganz hohe Rate von Analphabetentum bei uns in Marokko und auch ein ganz schlechter Zustand des Gesundheitssystems. Und gerade was die Korruption betrifft, bin ich sehr besorgt, weil es anfängt, das Land wirklich sehr stark zu destabilisieren. Das ist aber nicht nur die Schuld des Monarchen, man muss eben auch bei sich selbst anfangen und da einfach auch demokratischer denken, damit die Demokratie weitergehen kann.

Dann gibt es beispielsweise jeden Tag im Radio ganz offene Diskussionen zu brennenden Themen, wie zum Beispiel den Islamismus, die Demokratie, aber auch die Laizität. Also, es gibt wirklich eine Meinungsfreiheit in Marokko, die einmalig ist im arabischen Raum. Und natürlich, wenn ich das mit Deutschland oder mit Dänemark vergleiche, käme ich zu anderen Schlüssen. Aber wir sind ein Land, was sich vorwärts entwickelt, wo die Demokratie sich auch vorwärts entwickelt, trotz eben der massiven Probleme, die ich bereits genannt habe, die Korruption, das Gesundheitswesen, aber man ist dabei, diese Probleme in irgendeiner Form wenigstens zu benennen.

Also, was man zum Beispiel nicht darf in der Presse, sie dürfen nicht das Privatleben der Königsfamilie in irgendeiner Form diffamieren.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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