Antonio Damasio: "Im Anfang war das Gefühl"

Die Sehnsucht nach Orientierung

Antonio Damasio in einem Foto von Natacha Cardoso (Imago / Global Images), im Vordergrund das Cover seines Buches "Im Anfang war das Gefühl"
Antonio Damasio: Immer wieder die gesunde Balance © Imago / Global Images / Natacha Cardoso
Von Susanne Billig · 10.11.2017
Neurowissenschaftler Damasio schildert den Weg vom Einzeller zu Wesen mit Gefühl und Bewusstsein – bei Mensch und Tier. Der Portugiese denkt in die Tiefe und schreibt kraftvoll. Ein bestimmter Status spielt die Hauptrolle.
Antonio Damasio schreibt kraftvoll und suggestiv, selbst wenn sich in seinem neuen Buch "Im Anfang war das Gefühl" alles um den abstrakten Begriff "Homöostase" dreht. Quer durch die Evolution zeigt der Autor, wie die Lebewesen seit den ersten Einzellern mit einem biologischen Reaktionsvermögen ausgestattet wurden. Das erlaubt ihnen, sensibel auf Umweltveränderungen zu reagieren, um ihr inneres Milieu – durch Flucht, Fressen, Ausweichen, Abwehren und vieles mehr – immer wieder in jene gesunde Balance, die Homöostase, zu bringen.

Die Geburt der Gefühle

Im Laufe der Evolution entstanden so die Gefühle: Aus ersten sensiblen Zellen entwickelten sich Nervensysteme, die später Emotionen und schließlich Bewusstseinsphänomene hervorbrachten – erlebte Subjektivität, das Wissen um die eigene Existenz, auch bei Tieren. Doch emotionale und mentale Prozesse dienen letztlich demselben Grundanliegen: Wir reagieren auf Sinneswahrnehmungen der äußeren Welt mit einer Veränderung unseres inneren Milieus, dies erleben wir als Gefühl und reagieren durch bewusstes Gegensteuern. Beispiel: Wenn die Straße allzu düster wird oder der Konflikt bedrohlich, steigt der Blutdruck, das Herz schlägt schneller. Dies erleben wir als Angst – und suchen mit den Mitteln der Vernunft nach Wegen, die gefährdende Situation zu verlassen.

Geheimnis "Leib und Seele"

Damit das funktioniert, müssen Nervensystem und Gehirn mit körperlichen Vorgängen eng verschränkt sein - genau das konnten Biologen in den letzten Jahren eindrucksvoll zeigen. Damasios Beschreibungen, wie diese engen Wechselwirkungen körperlicher und geistiger Prozesse funktionieren, gehören zu den interessantesten Passagen des Buches.
Doch hat er damit auch das philosophische Geheimnis um "Leib und Seele", die "Philosophie des Geistes" glaubhaft von biologischer Seite her gelöst, wie er selbst meint? Natürlich nicht. Denn Damasio lädt den Körper mit poetischen Metaphern auf (die nebenbei angenehm dafür sorgen, dass er sich von einem öden materialistischen Reduktionismus weit entfernt).
Er übersieht zudem, dass sich auch in einer scheinbar so unverfänglichen Formulierung wie "Gefühle sind die mentale Seite körperliche Prozesse" ein philosophischer Kategoriensprung versteckt – denn was "mental" nun bedeutet, bleibt dennoch unerklärt. Trotzdem ist sein biologisch inspirierter Versuch respektabel.

In die Tiefe denkend

Auch wenn es um die Entstehung der menschlichen Kultur geht, ob Religion, Tanz, Bildende Kunst, Musik, Wissenschaft oder Medizin: Für Antonio Damasio basiert all das auf der Sehnsucht nach Homöostase in Form von Orientierung, Trost, Heilung oder einem gemeinsamen sozialen Rhythmus.
Das ist zutreffend, aber oft auch trivial – wobei man dem Autor zugutehalten muss, dass er um die engen Grenzen biologischer Erkenntnisse für das Verständnis kultureller Phänomene weiß.
Dieser Neurowissenschaftler denkt in die Tiefe, ohne dabei anmaßend zu werden – genau das macht seine Bücher so lesenswert.

Antonio Damasio: "Im Anfang war das Gefühl - Der biologische Ursprung menschlicher Kultur"
Übersetzt von Sebastian Vogel
Siedler Verlag, München 2017
320 Seiten, 26 Euro

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