Antisemitismusvorwurf gegen Emcke

Das Feindbild ist beliebig austauschbar

11:29 Minuten
Als Publizistin und Philosophin wird Carolin Emcke für Podien, Reden und Diskussionsrunden angefragt, wie hier auf der re:publica 2017.
Als Publizistin und Philosophin wird Carolin Emcke für Podien, Reden und Diskussionsrunden angefragt. © dpa / picture alliance / Britta Pedersen
Natascha Strobl im Gespräch mit Vladimir Balzer · 14.06.2021
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Der Antisemitismusvorwurf gegen Carolin Emcke ist falsch, sagt die Politikwissenschaftlerin Natascha Strobl. Die Philosophin habe auf ein drängendes Thema aufmerksam gemacht: Wie Rechtsextreme jedes beliebige Thema kapern und für ihre Zwecke nutzen.
Erst schlugen die Tageszeitungen "Bild" und "Welt" am Samstag auf Carolin Emcke ein, dann folgten Spitzenpolitiker der CDU. Ihr Vorwurf: Die Publizistin und Philosophin habe in ihrer Rede auf dem Bundesparteitag von Bündnis 90/Die Grünen den Holocaust verharmlost, indem sie die Opfer mit Klimawissenschaftlerinnen und Virologen verglichen habe.
Emcke hatte unter anderem wörtlich gesagt: "Die radikale Wissenschaftsfeindlichkeit, die zynische Ausbeutung sozialer Unsicherheit, die populistische Mobilisierung und die Bereitschaft zu Ressentiment und Gewalt werden bleiben. Es wird sicher wieder von Elite gesprochen werden. Und vermutlich werden es dann nicht die Juden und Kosmopoliten, nicht die Feministinnen oder die Virologinnen sein, vor denen gewarnt wird, sondern die Klimaforscherinnen."

Vom Kampf abgelenkt

Von vielen Seiten wird Emcke nun verteidigt, unter anderem meldete sich am Sonntag der Zentralrat der Juden in Deutschland via Twitter. Die Debatte um ihre Rede nehme "völlig unangemessene Züge an" und sollte "rasch" beendet werden. Zuletzt veröffentlichten am Montag 30 Intellektuelle aus Kultur, Journalismus und Wissenschaft einen Brief unter dem Titel "Gegen die Lügen".
Den Brief haben unter anderem unterzeichnet: der Direktor der Bildungsstätte Anne Frank, Meron Mendel, der Pianist Igor Levit und die Philosophin Susan Neiman. Viele der Unterstützerinnen und Unterzeichner sind selbst Juden oder haben jüdische Wurzeln.
In dem Schreiben heißt es zur Rede von Emcke: "Keiner ihrer Sätze ist in irgendeiner Weise als antisemitisch zu werten". Außerdem kritisiert die Gruppe "die Form der Angriffe" auf die Publizistin. So werde durch "mutwillig verzerrte Halbwahrheiten und bösartige Verdrehungen von Sinn" die politische Öffentlichkeit beschädigt und der politische Streit ausgehöhlt.
Die Springer-Presse und einige Politikerinnen und Politiker hätten so eine "der wichtigsten Stimmen dieses Landes" diffamiert. Die Journalistin Emcke habe "unermüdlich" gegen Antisemitismus, Rassismus, sexualisierte Gewalt, Homophobie und "alle Spielarten demokratiefeindlicher Menschenfeindlichkeit angeschrieben".
Von einer "strategischen Diskreditierung" Emckes spricht die Mitunterzeichnerin und Soziologin Paula-Irene Villa Braslavsky. Es sei konkret darum gegangen, eine öffentlichen Person zu diffamieren, die sich als Linke, Intellektuelle und Feministin artikuliert, sagte Villa Braslavsky im Deutschlandfunk Kultur.
Weiter heißt es in dem Schreiben: Die "aus der Luft gerissenen Vorwürfe" hätten den eigentlich wichtigen Kampf gegen Antisemitismus untergraben.

Die Beliebigkeit von Themen

Auch die Politikwissenschaftlerin Natascha Strobl findet die Rede nicht antisemitisch. "Der Satz für sich ist völlig aufgebauscht worden." Es sei etwas hereingelegt worden, was Emcke nicht gesagt habe. Emcke habe stattdessen aufgezählt, wie beliebig die Feindbilder der extremen Rechten seien, und das "nicht nur im Denken, sondern auch in der Argumentation nach außen", sagt Strobl. Mit dieser Aussage habe Emcke recht.
Wenn das Klimathema gerade populär sei, dann seien es die Klimaforscherinnen, die "in dieser Verschwörung tonangebend sind". In der derzeitigen Pandemie hingegen hätten sich extreme Rechte dann auf die medizinische Forschung konzentriert. "Und da sieht man wie einfach, wie beliebig dieses Konstrukt ist, wie beliebig die Feindgruppe ist, an der man sich gerade abarbeitet."

Eine vermeintliche Elite

Das Feinbild sei jederzeit austauschbar und sei einfach nur "die Front für die dahinterliegende Verschwörung". Und genau darin sei schon immer der wirkliche Antisemitismus verborgen gewesen.
Antisemitismus beginne schon mit der Idee dieser Verschwörung, dass eine intellektuelle und jüdische Stadtelite "das angestammte Volk unterjochen" wolle. Durch das Ablehnen dieser vermeintlichen Elite sei die Wissenschaftsfeindlichkeit von Verschwörungsgläubigen und -erzählerinnen zu erklären.
Nachdem die Geistes- und Sozialwissenschaft angegriffen worden seien, werde nun die Medizin- und Klimaforschung unter Beschuss gekommen. "Wir sehen in anderen Ländern, wie die Leute bedroht werden, wie sie körperlich angegriffen werden", sagt Strobl. "Morddrohungen – bis dahin, dass sie ihre Arbeit nicht mehr ausführen können".
Das sei ein deutliches Warnsignal und habe vor allem mit Antisemitismus und Autoritarismus zu tun, aber "auf keinen Fall mehr mit Demokratie".
(sbd)
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