Antisemitische Thule-Gesellschaft

Geistige Wegbereiter der Nazis

Briefkopf der Thule-Gesellschaft München aus dem Jahr 1919 mit Hakenkreuz, Schwert und Eichblattkranz
Briefkopf der Thule-Gesellschaft München aus dem Jahr 1919 mit Hakenkreuz, Schwert und Eichblattkranz © Stadtarchiv München
Von Sven Crefeld · 29.08.2018
Die Thule-Gesellschaft akzeptierte nur Männer mit "Ariernachweis", sie forderte "Deutschland den Deutschen" und Juden galten als "fremdrassig". Vor 100 Jahren gründete sich der Bund, der mit das Umfeld für den Aufstieg der Nazis schuf.
Wenn der besorgte Bürger das Vaterland in Gefahr sieht, von feindlichen Mächten gefesselt – dann müssen die Symbole seiner künftigen Rettung besonders martialisch und strahlend sein. Zum Beispiel auf diesem Briefkopf von 1919: Ein mächtiges blankes Schwert, umrankt von einem Siegerkranz, oben ein gerundetes Hakenkreuz in gleißendem Sonnenlicht. Daneben der "Wahrspruch" des Absenders:

"Gedenke, daß du ein Deutscher bist. Halte dein Blut rein!"

Das Zitat stammt von der Thule-Gesellschaft München. An ihr kann man ablesen, was das Wort "reaktionär" eigentlich bedeutet. Diese Gruppe wollte die Re-Aktion – eine Antwort auf die revolutionären Umbrüche am Ende des Ersten Weltkrieges. Die zunächst konspirative Thule-Gesellschaft bekämpfte alles, was in Deutschland mit dem Ende des Kaiserreiches 1918 aufkeimte: die Republik, die demokratische Verfassung, das Wahlrecht für Frauen, die parlamentarische Regierung, Meinungsfreiheit, Sozialismus.

Das Wort Thule stammt aus dem nordischen Sagenkreis

Hinter all dem steckten die Juden, propagierte die Thule-Gesellschaft. Ihr Gründer Rudolf von Sebottendorff sagte am Tag nach dem Sturz der bayerischen Monarchie in einer Rede:

"An Stelle unserer blutsverwandten Fürsten herrscht unser Todfeind: Juda. Die gestrige Revolution, gemacht von Niederrassigen, um den Germanen zu verderben, ist der Beginn der Läuterung. Jetzt heißt es kämpfen, bis das Hakenkreuz siegreich aus dem Fimbulwinter aufsteigt!"

Der Fimbulwinter – ein strenger, schier endloser Winter – ist nur eins von vielen Versatzstücken der nordischen Mythologie, die Sebottendorff benutzte. Schließlich gehörte er dem Germanenorden an, dessen Münchner Filiale zur Tarnung in Thule-Gesellschaft umbenannt wurde. Auch das Wort Thule stammt aus dem nordischen Sagenkreis. Es bezeichnet eine Insel im hohen Norden Europas, vielleicht Island. Thule war – so spekulierten Sebottendorff und seine Leute – der Zufluchtsort jener Germanen, die ihre heidnische Kultur vor der Christianisierung retten konnten.


Das war für die Thule-Mitglieder das mythische Vorbild: In der verhassten Republik zu überwintern, bis völkischer Geist neu erweckt wäre.
Die Thule-Gesellschaft akzeptierte nur Männer, die ihre einwandfreie Abstammung belegten – mit einem "Ariernachweis". Sie forderte "Deutschland den Deutschen" und die "bewusste Züchtung" von blonden Germanen. Juden galten als "fremdrassig", auch wenn sie deutsche Staatsbürger waren, und sollten unter das Ausländergesetz fallen.
Historischer Stahlstich aus dem 19. Jahrhundert "Die mythische Insel Thule"
Stahlstich aus dem 19. Jahrhundert: "Die mythische Insel Thule", Szene aus "Der König in Thule", Gedicht von Johann Wolfgang von Goethe.© picture alliance/dpa/imageBROKER/Foto: H.-D. Falkenstein

"Heil und Sieg!"

Das war der Gruß unter Thule-Leuten. Ihre Zeitung war der "Münchener Beobachter", der 1920 an die NSDAP verkauft wurde und danach "Völkischer Beobachter" hieß.

Thule-Gesellschaft mischte sich aktiv in Kämpfe ein

Die Thule-Gesellschaft war kein Zirkel esoterischer Träumer, die noch auf ihren Führer warteten. Sie mischte sich aktiv in die innenpolitischen Kämpfe nach 1918 ein. Der "Kampfbund Thule" war 1919 mit Waffengewalt an der Beseitigung der beiden Räterepubliken in Bayern beteiligt. Im vornehmen Hotel Vier Jahreszeiten, dem Versammlungsort der Thule, paradierte das gesamte rechte Spektrum des Freistaats.
Der Historiker Thomas Rink, Mitarbeiter am NS-Dokumentationszentrum in München, schätzt die Bedeutung der Gruppe so ein:
"Die gesellschaftliche Stellung ergibt sich daraus, dass die Thule-Gesellschaft zu so etwas wie ein Anlaufpunkt verschiedener rechtsextremer, antisemitischer, völkischer Organisationen wird. So etwas wie das Sammelbecken. Dadurch, dass viele angesehene Münchner Bürger Mitglied in der Thule-Gesellschaft waren, war diese Gesellschaft auch im Stadtgebiet gut vernetzt, hatte entsprechend finanziellen Hintergrund."
Mit Heil-Sieg-Gruß und Hakenkreuz sind von Anfang an die symbolischen Verbindungen der Thule-Gesellschaft zur NSDAP erkennbar. Auch personelle sind unübersehbar:
"Und der Einfluss der Thule-Gesellschaft, der ist prägend dann ab 1919, nach der Niederschlagung der Revolution. Dort wird die Thule-Gesellschaft aktiv. Da laufen die Fäden dann zusammen, und viele bekannte Persönlichkeiten, die später in der NSDAP Karriere machen, sind auch Gast oder Mitglied in der Thule-Gesellschaft. Alfred Rosenberg, der spätere Chefideologe der Partei. Rudolf Heß, der spätere Stellvertreter Adolf Hitlers."

Polizeichef förderte Hitlers Aufstieg

Dem Thule-Mitglied Wilhelm Frick, Reichsinnenminister seit 1933, wurde 1919 die Leitung der politischen Polizei in München übertragen. In dieser Position förderte Frick den Aufstieg eines vielversprechenden Agitators, indem er die hetzerischen Kundgebungen und Plakate der Deutschen Arbeiter-Partei duldete: Adolf Hitler.
Thomas Rink verweist darauf, wie die Mechanismen rechter Kumpanei auch in anderen Behörden Münchens wirkten:
"Aus der Thule-Gesellschaft heraus werden dann Mitglieder installiert, eingesetzt in wichtigen politischen Positionen. Beispielsweise neuer Polizeipräsident wird nach der Niederschlagung der Räterepublik Ernst Pöhner. Ein rechtskonservativ-antisemitisch eingestellter Polizeibeamter, Mitglied der Thule-Gesellschaft, wird Polizeipräsident. Er schützt qua seines Amtes dann rechtsextreme Straftaten, rechtsextreme Personen und verfolgt diese nicht konsequent."
Es war ein bemerkenswerter Anachronismus: Die erfolgreiche Thule-Gesellschaft mit ihren primitiven Konzepten von "rassischer Reinheit" und "germanischer Art" auf der einen Seite und der wissenschaftlich-technische Fortschritt, die Überwindung vormoderner Herrschaftsformen auf der anderen Seite. Der Historiker Thomas Rink erklärt dies – beispielhaft für München – mit den Erschütterungen der Zeitenwende 1918:
"Man hatte lange Zeit den König oder den Kaiser, man hat den Ersten Weltkrieg verloren, und in dieser Umbruchphase standen viele der Demokratie, den neuen Verhältnissen skeptisch gegenüber und waren empfänglich für radikale Ideologien. Es werden Schuldige für Miseren benannt, es wird eine Lösung gegeben, nämlich ein autoritärer Staat, den viele schon von vorher kannten. Demokratisches Denken war in weiten Teilen oder in Teilen der Gesellschaft eben nicht etabliert."


Nach dem gescheiterten Hitler-Putsch 1923 verlor die Thule-Gesellschaft allerdings an Einfluss, sie wurde allmählich verdrängt von der NSDAP. Und die beanspruchte für sich auch historisch einen Alleinvertretungsanspruch. Die frühen Wegbereiter völkischen Denkens nach 1918 sollten aus dem historischen Gedächtnis verschwinden. Rudolf von Sebottendorff schrieb 1933 das Buch "Bevor Hitler kam", um seine Verdienste ins rechte Licht zu setzen, fand aber damit keine Gnade und floh aus Deutschland.
Putschversuch November 1923 in München 
Putschversuch im November 1923: Verbände der NSDAP auf dem Münchner Marienplatz. © picture alliance/dpa/Foto: akg-images

"Thule" taucht auch später immer wieder auf

Das Wort Thule allerdings überlebte den Nationalsozialismus. Es taucht in okkulten und politischen Kontexten immer wieder auf. 1980 wurde in Kassel das Thule-Seminar gegründet mit dem Ziel, die deutsche Szene im Sinne der französischen Neuen Rechten zu intellektualisieren:
"Dort wird dann versucht, über Seminare, über Vorträge, rechtsextremes Gedankengut in die rechten Kreise zu bringen, also die rechten Kreise zu ideologisieren mit einer Organisation, das nannte sich Thule-Seminar. Das ist aber dann nach ein paar Jahren wieder eingeschlafen. Und im Internet findet man immer wieder einzelne Personen, Organisationen, die sich auf Thule berufen. Also das lebt bis heute fort."
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