Anti-Email-App "Thrive away"

Mit der Technik von der Technik befreien

Ständige Erreichbarkeit kann Stress verursachen. (Symbolfoto)
Ständige Erreichbarkeit verursacht Stress. Eine neue App will uns selbst vor unserem Kommunikationsdrang bewahren. © imago / Westend61
Von Constantin Hühn · 03.09.2017
Wer es nicht lassen kann, im Urlaub berufliche E-Mails zu lesen, kann sich mit der App "Thrive away" davon abhalten lassen. Constantin Hühn allerdings bezweifelt, dass der Benutzer damit an Freiheit gewinnt.
Gegen die Zumutungen der digitalen Technik kann man sich heute glücklicherweise mit der gleichen Technik zur Wehr setzen. Und so gibt es nun eine App, die uns vor digitaler Ablenkung im Urlaub schützen soll – genauer gesagt, vor der Beschäftigung mit beruflichen E-Mails. "Thrive away" heißt sie und verspricht, "eine Art Mauer zwischen dem Angestellten und seinen Mails" zu errichten. Die Macher der App haben sich dem "Well-Being" verschrieben: unserem Wohlbefinden also, und wie wir es trotz anspruchsvollem Job und digitaler Reizüberflutung erreichen können.

Trend zum Schutz vor ungewollten Neigungen

Die besagte App ist nur das jüngste Beispiel für einen allgemeinen Trend zur technologischen Selbstbeschränkung, der seit einigen Jahren zu beobachten ist. Nach dem Motto: "Protect me from what I want!" schützen sich immer mehr Menschen vor ihren ungewollten Neigungen, indem sie eine Maschine Gegenmaßnahmen ergreifen lassen. Bekannt sind etwa Anwendungen, die ablenkende Webseiten, wie Facebook, für einen bestimmten Zeitraum sperren.
Dahinter steht ein Versprechen auf mehr Selbstbestimmung: eine technische Befreiung von der Technik – und aus der eigenen Unmündigkeit. Durch Apps wie "Thrive Away", so die Hoffnung, können wir uns vor unserem inneren Schweinehund schützen und besser, freier leben. Klingt erstmal super. Hat allerdings einen Haken.

Freiheit an einen Apparat delegiert

Denn ob solche Apps wirklich einen Gewinn an Autonomie darstellen, darf als äußerst fraglich gelten. Wenn wir Anwendungen wie "Thrive" benutzen, kapitulieren wir vor unserer eigenen Unfähigkeit, die Finger vom Handy zu lassen. Immerhin sind wir unseren Telefonen keineswegs so hilflos ausgeliefert wie einst Odysseus dem tödlich-verlockenden Sirenengesang - vor dessen Verführung sich der berühmte Seefahrer einzig durch eine Fessel zu schützen wusste. Nein, wir können uns durchaus entscheiden, ob wir zum Handy greifen oder nicht. Wir brauchen keine digitale Fessel.
Mit Apps wie "Thrive" aber legen wir uns so eine Fessel an: Wir entziehen uns der Verantwortung, immer wieder aufs Neue selbst zu entscheiden, ob wir uns der Versuchung stellen oder nicht. Wir delegieren unsere Freiheit an einen Apparat. Das ist keine Autonomie, sondern technologischer Paternalismus: Ein Versuch, pauschal, von oben herab zu lösen, worüber sich nur individuell und von Fall zu Fall urteilen lässt: Ob es gerade wichtiger ist, online zu sein oder doch lieber ganz und gar weg. Diese schwierige Abwägung für uns selbst immer wieder neu vorzunehmen - darin bestünde echte Selbstbestimmung.

Echte Freiheit: auch gegen unser eigenes Wohl entscheiden

Und echte Freiheit würde beinhalten, gerade nicht immer nur das Vernünftige, Gesunde oder Wohltuende zu tun – also uns im Urlaub "optimal" zu erholen, sondern uns auch gegen unser eigenes Wohl entscheiden zu können. Natürlich wäre es gesünder, im Urlaub keine E-Mails zu lesen. Und natürlich wäre eine solche Abstinenz auch letztlich produktiver – womit der eigentliche Zweck der App klar benannt wäre: Es geht um ökonomische Nutzbarmachung und Effizienzsteigerung. Das "Well-Being", das die App-Hersteller als oberstes Ziel ausgeben, ist dafür bloß das zeitgemäße Instrument.
In der "Dialektik der Aufklärung" schreiben Theodor Adorno und Max Horkheimer, wie in kapitalistischen Gesellschaften sämtliche Bereiche der Muße und des Genusses dem Zweck der "Selbsterhaltung" unterworfen werden. Die Erholung tritt in den Dienst einer umso besseren Arbeitsfähigkeit. Vor diesem Hintergrund kann die Bearbeitung von E-Mails im Urlaub schon fast als ein Akt des Widerstands verstanden werden.
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