Anthropologin Rita Segato

Die Welt des Dorfes repolitisieren

06:09 Minuten
Eine Mutter bereitet im brasilianischen Dorf Kamayura im Xingu Nationalpark für ihre Kinder das aus Maniok hergestellte Lebensmittel Beiju zu. Dabei schauen ihr die Kinder und ein Mann mit einem Gewehr zu.
Eine indigene Frau bereitet Essen zu: Auch diese weibliche "Welt des Dorfes" - hier in Brasilien - ist politisch, meint die Anthropologin Rita Segato. © Getty Images South America / Ezra Shaw
Von Sophia Boddenberg · 25.08.2019
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In Lateinamerika haben Frauen politisch wenig zu sagen, so die Anthropologin Rita Segato: Schuld sei die moderne Trennung zwischen Haushalt und Öffentlichkeit. In indigenen Kulturen gehörten diese zusammen.
Wie hat die Eroberung von Südamerika die Geschlechterbeziehungen auf dem Kontinent verändert? Das ist eine der Fragen, denen die argentinische Anthropologin und Feministin Rita Segato in ihren Büchern nachgeht. Heute hält sie einen Vortrag an der Universidad de Chile in Santiago. Der Saal ist voll, viele Interessierte mussten draußen bleiben, die Online-Anmeldung war schon Monate vor ihrem Besuch ausgebucht.

Der Haushalt ist politisch

"Die Moderne ist die Epoche, in der wir Frauen verwundbarer sind als in allen anderen Epochen. Warum?". Bevor die Spanier und Portugiesen den Kontinent eingenommen haben, hätte es in den indigenen Gemeinschaften zwar auch eine "duale" Aufgabenteilung zwischen den Geschlechtern gegeben, sagt Segato. Das Häusliche – der Raum der Frauen – sei aber nicht privatisiert gewesen.
"In der dualen Welt sind die Männer für die Interaktion verantwortlich: den Dialog, die Verhandlung, den Krieg, die Beziehungen zur Außenwelt", erklärt Segato.
"Beziehungen zwischen Familien, Dörfern, Völkern und auch mit der kolonialen und staatlichen Front. Die Männer machen Politik nach außen, in diesem Raum, den wir als öffentlich bezeichnen. Der Raum der Frau ist der Haushalt, den wir aus der modernen und kolonialen Sichtweise als intim und privat betrachten, obwohl er das nicht ist. Die Welt der Frauen und der Familie ist offen für die Blicke vieler Menschen. Sie ist weder intim noch privat und auch nicht unpolitisch. Sie ist eine Welt, in der verwaltet wird, in der Entscheidungen getroffen werden, die den kollektiven Weg der Gesellschaft bestimmen und die Entscheidungen der Männer beeinflussen."

Heute wird das Leben staatlich reguliert

Segato ist 68 Jahre alt und hat lockige, graue Haare. Sie lebt zwischen Argentinien und Brasilien und arbeitet dort seit über elf Jahren zusammen mit indigenen Frauen. Sie nennt die Welt dieser Frauen "mundo aldea", die "Welt des Dorfes".
In Brasilien gibt es noch indigene Völker, die nur wenig Kontakt zur Außenwelt haben. Doch der Staat nimmt immer mehr Einfluss auf ihr Leben. Segato spricht deshalb von einem Komplex aus Staat, Wirtschaft, Medien und Kirche, der immer weiter um sich greife.
Während der häusliche Raum in den indigenen Gemeinden traditionell kein geschlossener ist, sondern ein Raum, in dem viele Menschen ein- und ausgehen, verschließe die Moderne den häuslichen Raum und isoliere die Frauen, die auf diese Weise verwundbarer werden, so Segato.

Die Privatisierung des Haushalts macht Frauen verwundbar

Die Privatisierung des hauswirtschaftlichen Raums habe nicht nur dazu geführt, dass Frauen häuslicher Gewalt ungeschützer ausgesetzt sind, sondern habe diesem Raum auch seine politische Bedeutung genommen.
"Mit der Eroberung, der Kolonialisierung und Modernisierung entstehen ein Staat und ein öffentlicher Raum, der alles Politische, alle Entscheidungsmacht für sich vereinnahmt", sagt Segato.
"Die Politik wird zur Aufgabe der Männer, aus zwei politischen Räumen wird einer, der beansprucht, für die Interessen aller Mitglieder der Gesellschaft zu stehen. Während dieser öffentliche Raum, dieser Staat, überpolitisiert wird, wird der Haushalt entpolitisiert. Er wird zu einem Raum am Rande des politischen Lebens der Nation, der Gesellschaft, der Gemeinschaft."
Die Anthropologin und Feministin Rita Laura Segato, Spezialistin für Geschlechterforschung in indigenen Dörfern, ist während einer Rede auf der Biennale del Thought in Barcelona zu sehen.
Die Anthropologin Rita Laura Segato ist Spezialistin für Geschlechterforschung in indigenen Dörfern.© imago images / ZUMA Press / Paco Freire
Während der Platz der Frauen auf diese Weise im Privaten angesiedelt und ihre traditionellen Tätigkeiten wie Erziehung, Fürsorge, Ernährung und Wertevermittlung der Öffentlichkeit entzogen wurde, entstand Segato zufolge im öffentlichen Raum das universelle Subjekt des weißen, heterosexuellen Mannes, dem sich die Frauen angleichen müssen, um am politischen Leben teilzuhaben.

Kleine Gemeinschaften statt Zentralisierung

Segato fordert aber keinesfalls, zu einer ursprünglichen, idealisierten Vergangenheit zurückzukehren. Ihr schwebt hingegen vor, dass sich die indigenen Gemeinschaften ihre kommunalen Strukturen wieder aneignen und aktiv gestalten.
"Wenn wir an die Völker unseres Kontinents denken, die Völker des Amazonas zum Beispiel, dann stellen wir fest, dass viele von ihnen keinen Staat errichtet haben", so Segato.
"Denn der Aufbau eines Staats bedeutet Anhäufung und Konzentration von Macht. Nicht nur hier, auch in Afrika gibt es es riesige Gemeinschaften ohne Staat, die in Gleichgewicht leben und ihre eigenen Rechtsformen haben. Das ist eine der wichtigsten Entdeckungen der Anthropologie. Wir denken immer, dass der Staat das höchste Gut ist, aber in unseren Ländern ist das längst nicht nachweisbar."

Die Zukunft wird von Frauen geschrieben

Gemeinschaftliche Beziehungen lebten vor allem davon, dass alle Mitglieder sich gleichermaßen einbringen können. Segato ist deshalb davon überzeugt, dass gerade die feministische Bewegung in den Gemeinden einen wichtigen Beitrag zur gleichberechtigten Gestaltung des Zusammenlebens leistet:
"Wir dürfen den Glauben nicht verlieren an diese Bewegung, die in der Geschichte niemand aufhalten konnte. Es gibt eine enorme Anzahl von gemeinschaftlichen Organisationen – viele davon bestehen aus Frauen –, die eine andere Art von Geschichte schreiben. Wir dürfen nie vergessen: Die Zukunft ist unbekannt. Die Unvorhersehbarkeit der Geschichte ist die einzige geltende Utopie der Gegenwart.
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