Ansteckung beim Proben

Im Chor singen geht nicht digital

13:13 Minuten
Männer und Frauen in schwarzer Kleidung und mit roten Gesangsbüchern stehen dicht an dicht in mehreren Reihen, die sich diagonal durch das Bild ziehen.
Der Chor der Berliner Domkantorei – aufgenommen vor der Coronakrise. So heute undenkbar: Denn Singen scheint besonders ansteckend zu sein. © Boris Streubel/Berliner Domkantorei
Tobias Brommann im Gespräch mit Kirsten Dietrich · 24.05.2020
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Ein Alptraumszenario: Ein Chor probt für ein Konzert. Eine Sängerin hat, ohne es zu wissen, das Coronavirus. Fast der gesamte Chor erkrankt an Covid-19. Der Berliner Domkantorei ist genau das passiert. Schaut man danach anders aufs Singen?
Kirsten Dietrich: Als ich das letzte Mal mit Tobias Brommann gesprochen habe, da probte sein Chor, die Kantorei des Berliner Doms, die Johannes-Passion von Johann Sebastian Bach. Die Aufführung war kurz vor Karfreitag geplant, business as usual für richtig gute Kirchenchöre. Kurz danach war gar nichts mehr wie immer. Nicht nur, dass die Aufführung den Schutzmaßnahmen gegen die Verbreitung des Virus zum Opfer fiel, die Sängerinnen und Sänger hatten sich selbst angesteckt.
Viele erkrankten an Covid-19, auch der Domkantor Tobias Brommann. Inzwischen ist er wieder genesen. Ich möchte heute mit ihm sprechen über das Singen im Chor in Coronazeiten. Wie arbeiten Sie denn gerade, wie proben Sie?
Tobias Brommann: Proben tun wir ausschließlich online. Was anderes halte ich im Moment nicht für verantwortungsbewusst.

"Das Gegenteil von Chor"

Dietrich: Wie probt man mit einem Chor online? Geht das überhaupt?
Brommann: Eigentlich nein. Das, was wir jetzt machen, ist im Grunde genommen das Gegenteil von Chor. Das funktioniert nämlich nur in eine Richtung. Aufgrund der Verzögerungen, die über das Internet immer wieder passieren, ist es nicht möglich, gleichzeitig zu singen. Das heißt, nur der Chorleiter hat sein Mikro offen, alle anderen müssen stummgeschaltet sein. Die hören den Chorleiter und können dann selber dazu singen, aber das ist nicht wirklich Chor.
Dietrich: Es ist im Prinzip also eigentlich eine Einzelstimmprobe?
Brommann: Genau. Gesangsunterricht über diese Möglichkeit wäre sogar noch möglich, aber das gemeinsame Singen ist nicht möglich. Gerade bei etwas komplexeren Stücken in der großen Domkantorei probe ich im Moment stimmweise, also den Sopran eine Zeit lang, dann den Alt. Dann ist es tatsächlich sogar effektiv. Ich denke, dass man dabei durchaus auch was lernen kann.

Eher einschränkend als befreiend für die Kreativität

Dietrich: Das heißt aber, die vielgepriesene neue Kreativität, die durch Corona erzeugt wird, die ist bei einem Chor sehr streng limitiert. Oder haben Sie da auch neue Erfahrungen gemacht?
Brommann: Ich lerne gerade, wie man einen virtuellen Chor zusammenstellt. Das ist ein ganz neues Gebiet. Das machen jetzt auch viele, aber so richtig Chorsingen ist das leider nicht. Ich denke, Chorsingen ist mit digitalen Mitteln nur schwer nachzustellen. Das eigentliche Wesen des Chorsingens ist das gemeinsame Singen, das ist im Moment in einer größeren Anzahl einfach nicht möglich.

Wenigstens ein bisschen Gemeinschaft

Dietrich: Wie geht es denn Ihren Sängerinnen und Sängern mit dieser Art zu proben?
Brommann: Teils, teils. Es ist natürlich das Gegenteil von Chorsingen und nicht schön, auf der anderen Seite nehme ich doch eine ganze Menge wahr. Man kommt miteinander in Kontakt, man kann überhaupt singen, man lernt die Stücke. Das ist schon ein Strohhalm, an dem sich dann auch viele klammern und für den auch einige dankbar sind. Einige sagen, das ist nicht das Medium für mich und nehmen dann nicht teil, zum Teil auch aus technischen Gründen. Das ist im Moment einfach sehr weit gestreut, aber viele nehmen es auch ganz dankbar wahr.
Dietrich: Das ist wahrscheinlich aber eine Methode, die nur für einen relativ geübten, relativ professionellen Chor geht, wo die Sängerinnen und Sänger wirklich auch gewohnt sind, alleine ihre Stimme zu singen und alleine sich zu hören – oder?
Brommann: Also, alleine zu singen und sich dabei zu hören, das ist für viele sehr unangenehm. Auf der anderen Seite, es hört ja sonst auch niemand anderes, außer vielleicht ein Nachbar, wenn die Wände sehr dünn sind. Es machen doch mehr mit, als ich so dachte.

Singen ist ansteckend

Dietrich: Das Singen, vor allen Dingen das gemeinsame Singen, das scheint wirklich eine der ansteckendsten Tätigkeiten zu sein, die man in Coronazeiten überhaupt so tun kann. Das haben Sie ganz leidvoll auch am eigenen Leib erfahren. Hätten Sie damit jemals gerechnet, dass Sie sich beim Chorsingen alle zusammen eine Krankheit einfangen können?
Brommann: Nein, also nicht in diesem Maße. Dass man, sobald man aus der Tür tritt und mit anderen Menschen in Kontakt kommt, natürlich immer in der Gefahr ist, sich an irgendetwas anzustecken, das ist normal, das ist ein Risiko, mit dem man auch normalerweise lebt. Aber dass es in einer so großen Anzahl Leute betrifft, die in einem Raum gewesen sind, das hätte ich so nicht vermutet. Meine Vermutung ist, dass das Singen das bestärkt, aber das eigentliche Problem scheint zu sein, wenn Menschen über eine längere Zeit in einem Raum gemeinsam sind.
Dietrich: Also nur die Anwesenheit, gar nicht unbedingt das tiefere, das gemeinsame, das synchronisierte Atmen beim Singen?
Brommann: Ich denke, das Singen ist ein verstärkender Faktor, aber es gibt auch Beispiele dafür, wie sich eine Büroetage angesteckt hat, dort wird natürlich nicht gesungen. Ich glaube, es ist einfach der Faktor, wenn man zusammen in einem geschlossenen Raum ist.

Inzwischen sind alle wieder gesund

Dietrich: Sind denn inzwischen alle, die wirklich an der Covid-19-Krankheit erkrankt sind, wieder gesund?
Brommann: Ja. Wir haben Glück gehabt. Es ist keiner gestorben, wir sind alle wieder ganz gut auf dem Damm, mit ein paar Nachwehen noch, weil so eine lange Krankheit erfordert natürlich auch ihren Tribut an die Reserven des Körpers. Aber wir sind alle wieder gesund.
Dietrich: Wie fängt man mit so einer Erfahrung wieder das Singen an? Geht das einfach so?
Brommann: Ich denke, es wird etwas ganz Besonderes sein, wenn wir uns das erste Mal wieder in einer größeren Gruppe treffen können. Da freue ich mich schon sehr, das wird eine wirklich kaum nachvollziehbare Erfahrung. Ich habe das noch nicht erlebt. Ich kann es mir gerade schwer vorstellen, aber es wird sicherlich ein sehr großes Hochgefühl sein.

Mit Angst kann man nicht singen

Dietrich: Hat diese Erfahrung beim Singen, durchs Singen vielleicht sogar, krankgeworden zu sein, eigentlich Auswirkungen auf das Singen selbst? Das funktioniert eigentlich nur, wenn man den Körper so lockerlässt, dass Atem und Stimme auch wirklich strömen können. Kann man mit Angst singen?
Brommann: Das ist nicht schön, mit Angst zu singen. Das wird dem Singen sicherlich nicht zuträglich sein. Wie das sein wird, keine Ahnung. Das ist im Moment leider noch Zukunft, dass wir uns wieder treffen können. Insofern kann ich das nicht nachvollziehen oder noch nicht vorausgreifen, wie ich mich dann fühlen werde. Es wird sicherlich anders sein als vorher.
Dietrich: Gottesdienste gibt es wieder, allerdings wird alles begrenzt. Eins allerdings wird gleich ganz ersatzlos gestrichen, nämlich das Singen. Wie erleben Sie das denn?
Brommann: Das ist schon alles ziemlich absurd, auch Situationen, die man sich sonst so kaum vorstellen könnte. Allein diese Situation, dass man einen Gottesdienst aufnimmt und ins Internet stellt und keine Gemeinde vor sich hat, also keinen Ansprechpartner, das sind alles Situationen, die widersprechen dem ganzen Charakter eines Gottesdienstes. Das ist schon ziemlich bitter, das so erleben zu müssen und eine Situation, auf die man sich nur schwer einstellen kann.

Nicht ersatzlos aus dem Gottesdienst streichen

Dietrich: Welche Rolle spielt denn das Singen für einen Gottesdienst?
Brommann: Singen ist auch ein Ausdruck von religiöser Identität und natürlich auch von Menschlichkeit. Auch für nichtgläubige Menschen ist Singen mehr als nur ein Freizeitvergnügen.
Dietrich: Das heißt, es ist eigentlich ein integraler Teil des Gottesdienstes.
Brommann: Unbedingt, ja.
Dietrich: Kann man das einfach so ersatzlos streichen?
Brommann: Wir machen das so, dass wir mit einer Solistengruppe oder einem Solisten stellvertretend für die Gemeinde singen, natürlich mit den entsprechenden Abstandsregeln und in einem großen zugigen Dom mit nur sehr wenigen Leuten. Oder ein Solist singt. Das kann ich mir vorstellen, aber es ist nicht das, was ich mir unter Gottesdienst vorstelle.

Mühsame Suche nach neuen Gottesdienstformen

Dietrich: Das heißt aber, Sie sind jetzt nicht dabei, munter neue Konzepte zu entwickeln, wie man Gottesdienst feiern kann, wenn man einfach davon ausgeht, dass die Gefahr von Ansteckung Realität ist, und wo man wirklich ganz andere Formen finden muss? Sie hoffen einfach, dass es bald möglichst wieder ungefähr so geht wie vorher?
Brommann: Wir haben im Dom jetzt Gottesdienste, die gestreamt werden. Das ist für uns etwas Neues, die Technik ist auch immer besser geworden, aber wir haben auch festgestellt, dass die Einstellung auf Streaming-Gottesdienste etwas anderes bedeutet, als wenn man eine Gemeinde vor sich hat. Das betrifft die Abstände, die Pausen, das betrifft die Länge von bestimmten Einheiten im Gottesdienst, das betrifft die Akustik, die Einstellung. Das zu vereinbaren, ist auch nicht so leicht, wenn wir gleichzeitig streamen, aber trotzdem Besucher im Dom haben. Dass alle ein schönes Gottesdiensterlebnis haben, da versuchen wir gerade, einen guten Weg zu finden.

Das Singen wird nicht verschwinden

Dietrich: Haben Sie ein bisschen Sorge, dass vielleicht der Gemeindegesang in vielen Gemeinden nach der Coronakrise gar nicht wieder zurückkommt? Der ist sowieso auch manchmal das Sorgenkind, weil nur noch ganz wenige mitsingen und es dann, ziemlich freundlich gesagt, mager klingt und dass das so die Gelegenheit wäre, damit endgültig Schluss zu machen?
Brommann: Das glaube ich nicht. Meine Befürchtung ist eher, dass es Gemeinden gibt, die zu früh, zu intensiv mit so vielen Leuten anfangen zu singen und damit die Verbreitung des Virus befördern. Aber ich glaube nicht, gerade wenn wir so ausgehungert sind nach Kultur und auch dem Singen, dass das ein Problem wird.
Ein grauhaariger Mann mit Brille schaut konzentriert nach links und gestikuliert mit den Händen - im Hintergrund weitere Menschen in schwarzer Kleidung,
Der Kantor des Berliner Domes Tobias Brommann.© Christian Muhrbeck/Berliner Domkantorei
Dietrich: Das heißt, Sie proben auch schon für die Zeiten danach?
Brommann: Ja. Das Stück, das wir jetzt in der Domkantorei proben, war eigentlich ein Oratorium, was wir im November aufführen möchten. Ob das klappt oder nicht, vor allen Dingen, weil wir natürlich jetzt nicht so schnell vorankommen wie eigentlich geplant, das wird sich noch zeigen. Aber wir werden dieses Stück in jedem Fall aufführen, je nachdem, ab wann das dann wieder möglich sein wird. Vielleicht nicht dieses Jahr, aber in der Zukunft natürlich schon.
Dietrich: Sie haben aber jetzt nicht Ihr musikalisches Programm geändert.
Brommann: Für die Gottesdienste schon, weil wir dort nicht mit Chören auftreten können. Für die Konzerte bin ich dabei, die Programme zu ändern. Da wir bis zum Sommer kein Konzert geplant hatten, war die Planung gar nicht so groß zu ändern. Was Weihnachten passiert, das wissen wir auch noch nicht.

Konzertplanung ist schwierig

Dietrich: Ich könnte mir vorstellen, dass diese Planung wahrscheinlich gerade recht schwierig ist, also für einen Chor wie den Ihren, der auch Konzerte gibt, für die ein teures Orchester eingekauft wird, für die Eintrittskarten verkauft werden, für die Werbung gemacht werden muss. Wie können Sie da für die weitere Arbeit planen?
Brommann: Das ist eine gute Frage. In diesem Jahr wären noch einige Konzerte im Plan gewesen. Ob wir das jetzt dieses Jahr durchführen können, steht in den Sternen. Mir tun vor allen Dingen die Musiker leid, die von diesen nicht sehr hohen Honoraren leben müssen und denen jetzt diese ganzen Einnahmen wegbrechen. Ich plane erst mal für die Zukunft und kann nur hoffen, dass diese Konzerte dann auch stattfinden können.
Dietrich: Gibt es da irgendein Netzwerk, irgendwelche Hilfen für Chöre in dieser Situation?
Brommann: Für Chöre habe ich das noch nicht gehört. Für die Musiker auf dem freien Markt gibt es verschiedene Ansätze, wie man denen helfen kann. Aber auch wir müssen natürlich gucken, wo wir dann unser Geld wieder herkriegen, um diese Konzerte überhaupt noch durchführen zu können.

Es wird Einschnitte beim Konzertleben geben

Dietrich: Das heißt, das könnte tatsächlich in der Folge der Coronakrise zu deutlichen Einschnitten im Konzertleben und im Chorleben kommen?
Brommann: Ja. Alle Kulturbetriebe, die im Moment keine Einnahmen haben, müssen sehen, wo sie das Geld herkriegen, denn umsonst ist Kultur leider nicht zu haben.
Dietrich: Sie haben die Johannes-Passion von Bach geprobt, als Covid-19 zuschlug. Das ist Musik aus einer Zeit, in der man mit Musik trotzig gegen den alltäglichen Tod an Pest und anderen Seuchen ansang. Haben Sie durch die Krankheit einen anderen Blick auf diese Musik bekommen?
Brommann: Ich habe die Johannes-Passion seitdem noch gar nicht wieder gemacht, insofern habe ich mich damit noch nicht beschäftigt. Aber ich bin der Überzeugung, dass in so einer Krise, die so tief durch die Gesellschaft geht, sich der gesamte Blick auf alles, auch auf die Kultur, verändern wird. Wir hatten jetzt ein Requiem geplant im November, das ist in diesem Moment mit so viel unvorhergesehenen Toten ein ganz besonderer Moment, wenn wir das dann aufführen werden. Ich denke, der Blick auf die Kultur insgesamt wird sich verändern.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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