Anschläge von Paris und Sydney

Die neue Art des Terrorismus

Drei Polizisten stehen an einem Lastwagen und blicken in Richtung des Cafés.
Das Ende der Geiselnahme war ein gewaltsames, Spezialkräfte stürmten das Café. © SAEED KHAN / AFP
Andreas Stummer im Gespräch mit Isabella Kolar · 13.01.2015
Die Anschläge auf ein Café in Sydney, einen jüdischen Supermarkt und die Redaktion der Satirezeitung "Charlie Hebdo" in Paris zeigen, dass die Dschihadisten ihre Strategie ändern, so Journalist Andreas Stummer. Sie nehmen zunehmend sogenannte "weiche Ziele" ins Visier.
Die Steigerung des Grauens ist möglich: Mitte Dezember der Anschlag von Sydney, bei dem nach 16-stündiger Geiselnahme zwei Menschen sterben, am vergangenen Mittwoch der Anschlag von Paris, bei dem 17 Menschen sterben, zwölf davon binnen Minuten.
Unser Autor Andreas Stummer lebt seit vielen Jahren in Sydney und hat rund um die Uhr über den Anschlag und seine Folgen berichtet. Muslime und Nichtmuslime rückten in Australien in der Zeit danach zusammen. Die Gesetze wurden schon vor dem Anschlag verschärft, konnten diesen aber nicht verhindern und haben nach Einschätzung von Andreas Stummer mit Demokratie nicht mehr viel zu tun, und unter anderem deshalb, weil die Presse einen Maulkorb bekommen hat und bei sogenannten "Spezialoperationen" zum Schweigen verdammt ist.
Die Taktik der dschihadistischen Angreifer weltweit scheint sich zu ändern: es werden nicht mehr wie noch in London, Bali und Boston aufwendige Bombenanschläge mit großem zeitlichen Vorlauf und vielen Tätern auf zum Teil bewachte Objekte verübt (bei denen das Risiko, entdeckt zu werden groß ist), sondern Einzeltäter suchen sich sogenannte "soft Targets", "weiche Ziele" im unbewachten Alltag der Menschen, das Café in Sydney, der jüdische Supermarkt in Paris oder die Redaktion einer Satirezeitung.

Das Interview im Wortlaut:
Isabella Kolar: Unser Kollege Andreas Stummer hat am Montag, dem 15. Dezember, und in den folgenden Tagen rund um die Uhr auch für unser Programm über die Geiselnahme von Sydney und ihre Folgen berichtet.
Herr Stummer, Sie leben in Sydney. Wie ist die Atmosphäre in Ihrer Stadt vier Wochen später? Vergessen, verdrängen oder doch erinnern?
Andreas Stummer: Verdrängen eigentlich auf keinen Fall. Ganz Sydney hat sehr öffentlich getrauert, die ganze Welt hat dabei zusehen können. Und auch, wenn die mehr als 100.000 Blumensträuße, die man am Martin Place niedergelegt hat, wenn die auch heute wieder weggeräumt sind - die Erinnerung an das, was im Lindt Café passiert ist in diesen 16 Stunden und vor allem die Erinnerung an die beiden Todesopfer der Geiselnahme, die ist immer noch da. Es ist die Rede davon, am Martin Place ein Denkmal für die beiden zu errichten, es sollen posthum Tapferkeitsmedaillen verliehen werden.
Aber in Sydney macht man eigentlich genau das, was auch schon Mike Baird, der Premier von New South Wales, am Tag der Geiselnahme angekündigt hat, er hat damals gesagt: Wir werden so weiterleben wie bisher. Und das macht man. 14 Tage nach der Geiselnahme waren anderthalb Millionen Sydneysider unten am Hafen und hatten, wie immer an Silvester, einen Knall, und haben sich wie immer das riesige Feuerwerk angeschaut, und man macht wirklich so weiter wie bisher. Die Geschäftsführung des Lindt Cafés will diese Woche bekannt geben, was mit dem Schauplatz der Geiselnahme passieren wird.
Soll man das Café an Ort und Stelle wieder öffnen? Soll man woanders hingehen? Man möchte auch keine makabre Pilgerstätte schaffen, die dann vielleicht von Leuten aus den völlig falschen Gründen besucht wird. Eines aber haben Sydney und ganz Australien eigentlich aus der Geiselnahme gelernt - man weiß jetzt: Man hat vielleicht keine Kontrolle darüber, wozu Terroristen fähig sind, aber man hat sehr wohl Kontrolle darüber, wie man darauf reagiert. Und diese Gelassenheit, die will man sich auch in Zukunft nicht nehmen lassen.
Kolar:Der Terror hat sich, wenn auch unter anderen Vorzeichen, in der vergangenen Woche in Paris fortgesetzt. Wie waren die Reaktionen in Australien darauf?
Menschen halten Schilder hoch, auf denen "Je suis Charlie" steht.
Im ganz Frankreich solidarisierten sich Menschen mit den Opfern des Attentats auf das Satire-Magazin Charlie Hebdo.© imago/Haytham Pictures
Stummer: Wie überall in der Welt war man erst schockiert, dann war man wütend, das ist man auch immer noch, dann war man traurig, aber jetzt ist man vor allem trotzig. So knapp, nur ein paar Wochen nach der Geiselnahme von Sydney, gab es aber auch das Gefühl: Nicht schon wieder! Und man war, glaube ich, sehr erleichtert, dass es auch in Frankreich nicht zu landesweiten Ausschreitungen oder Angriffen auf oder gegen Muslime gekommen ist. In Australien hat man sehr besonnen auf die Geiselnahme in Sydney reagiert. Seitdem sind Muslime und Nicht-Muslime hier im Land wirklich aufeinander zugegangen und sind auch neugieriger aufeinander geworden.
Man sagt sich: Je mehr wir voneinander wissen, desto mehr verstehen wir uns auch. Und in Sydney selbst sind noch am Abend des Attentats von Paris mehr als 1.000 Franzosen in der Innenstadt zusammengekommen, alle mit "Ich bin Charlie"-Schildern, zusammen mit Sydneysidern, die mit ihnen bis tief in die Nacht dann ausgeharrt haben, und der Ort war symbolisch - man saß am Martin Place, direkt gegenüber des Lindt Cafés, so, als ob man wirklich zeigen wollte: Seht her, der Terrorist von Sydney, der Geiselnehmer ist nicht mehr da, wir aber schon.
Kolar: Der frühere CIA-Chef Michael Hayden spricht im Zusammenhang mit dem Anschlag auf "Charlie Hebdo" in Paris von einer neuen Art des Terrorismus. Es zeige sich hier ein immer professionelleres Vorgehen der Täter, sprich, kleinere Ziele, schnelleres Zuschlagen. Verbindet das die Anschläge von Sydney und Paris? Islamisten bedienten sich doch früher eher der Bombe.
Die Terroristen scheinen ihre Taktik tatsächlich geändert zu haben
Stummer: Wenn wir an London zurückdenken zum Beispiel oder an den Bombenanschlag von Bali oder an die Bombe, die beim Marathon von Boston hochgegangen ist - das waren Terroranschläge, die lange im Voraus geplant waren und wurden, und für die auch mehrere Täter und Helfer nötig waren. Nur: Je mehr Menschen und Material beteiligt sind, umso größer ist natürlich auch die Gefahr, dass Pläne von Terroristen auffliegen und Anschläge von Sicherheitsbehörden verhindert werden.
Bei Einzeltätern aber ist es so gut wie unmöglich, vor allem, wenn sich Terroristen keine gut bewachten Ziele mehr aussuchen wie Kasernen, Regierungseinrichtungen oder auch vielbesuchte Sehenswürdigkeiten. Die sind immer gesichert. Stattdessen werden immer öfter sogenannte Soft Targets ausgesucht: das Café in Sydney, ein jüdischer Supermarkt in Paris, die Redaktion einer Satirezeitung. Die Terroristen scheinen ihre Taktik tatsächlich geändert zu haben und haben es immer mehr auf das abgesehen, was der Bevölkerung jeden Landes eigentlich hoch und heilig ist, und das ist ihr unbeschwerter, friedlicher Alltag.
Kolar: Nach offiziellen Angaben sind derzeit rund 390 Dschihadisten aus Frankreich im Nahen Osten aktiv, 180 sind ja, oft radikalisiert, wieder zurückgekehrt. Gibt es solche Zahlen auch für Australien? Wie schätzt man diese Gefahr ein?
Heimkehrende Dschihadisten
Stummer: Es gibt Zahlen: Der australische Geheimdienst geht davon aus, dass derzeit mehr als 100 Australier als Dschihadisten in Syrien oder im Irak sich der IS-Terrormiliz angeschlossen haben, und man rechnet, dass etwa 50 dort bei den Kämpfen bisher umgekommen sind, und dabei handelt es sich hauptsächlich um junge Männer unter 25, auch einige Frauen.
Nur über mögliche Rückkehrer, da wollen die Sicherheitsbehörden nicht drüber sprechen, aus Sicherheitsgründen, wie sie sagen. Es gibt weder Zahlen, noch wird gesagt, ob heimkehrende Dschihadisten beobachtet werden, ob sie vielleicht verhört werden, ob sie sogar verhaftet werden. Dass diese in Australien aufgewachsenen Dschihadisten eine Gefahr sind, das wissen die Behörden. Wie groß diese Gefahr aber ist, das will man uns nicht wissen lassen.
Kolar: Wie immer nach schweren Terroranschlägen ist nun - nicht nur, aber auch - in Deutschland die Rede von strengeren Gesetzen, aber sowohl in Frankreich, als auch in Australien sind die Gesetze noch vor den Anschlägen verschärft worden, in Frankreich erst im letzten Jahr, und es hat auch in Australien offensichtlich nichts geholfen.
Nach der Geiselnahme in einem Café in Sydney: Australiens Premierminister Tony Abbott und seine Frau Margaret legen Blumen nieder
Nach der Geiselnahme in einem Café in Sydney: Australiens Premierminister Tony Abbott und seine Frau Margaret legen Blumen nieder © AFP / Peter Parks
Stummer: Das Problem war einfach: Es hat Bedrohungen gegeben oder eine konkrete Bedrohung mehr oder weniger, und die hat man den Australiern häppchenweise serviert. Also im September letzten Jahres, da sahen die Australier zum ersten Mal, glaube ich, den Chef ihres Geheimdienstes im Fernsehen.
Er hat der Bevölkerung an seinem letzten Arbeitstag, bevor er in die Pension gegangen ist, in den australischen Tagesthemen, wenn man so will, noch ein kleines Abschiedsgeschenk mit auf den Weg gegeben: Der Geheimdienstchef hat nämlich höchstpersönlich die Terrorwarnstufe für Australien erhöht. Warum, das hat er nicht gesagt, aber er hätte gute Gründe dafür. Welche Gründe das waren, das haben wir dann Tage später erfahren: Im Morgengrauen gab es dann eines Tages die größten Antiterrorrazzien in der Geschichte Australiens, 800 Beamte, Hausdurchsuchungen in Sydney, in Melbourne, in Brisbane, mehrere Festnahmen. Und der Grund: Es gäbe konkrete Hinweise darauf, dass radikale Islamisten geplant hätten, in Sydney wahllos einen oder mehrere Passanten zu entführen und mitten auf dem Martin Place in der Innenstadt den Kopf abzutrennen.
Man hätte Telefongespräche abgehört, man hätte sofort handeln müssen, um eine solche Tat zu verhindern, hat der Geheimdienst danach gesagt, und drei Monate später kam es dann zur Geiselnahme von Sydney an gleicher Stelle, am Martin Place in der Innenstadt.
Kolar: Und nach diesen Razzien kam es dann auch zu Gesetzesverschärfungen. Von was für Gesetzen sprechen wir da?
Großer Lauschangriff auf dem kleinen Dienstweg.
Stummer: Also man hat lange und kontrovers diskutiert, ob diese Gesetze überhaupt nötig wären, denn es gab bereits den Großen Lauschangriff, und zwar auf dem kleinen Dienstweg. Man hat verdächtige Personen schon längst auch ohne Haftbefehl eine Woche lang festhalten können.
Aber die Regierung wollte spezifische Gesetze, die möglichen Dschihadisten das Leben so schwer wie möglich machen sollen. Da haben wir einmal das Gesetz, das verbietet, in ein von einer Terrororganisation kontrolliertes Gebiet zu reisen - zur Not können die Behörden sogar Reisepässe einziehen, bei Zuwiderhandlung: mehrjährige Haftstrafe.
Wer im In- und Ausland mit einer Terrororganisation sympathisiert oder sich ihr anschließt, macht sich strafbar: wieder mehrjährige Haft. Wer extremes Gedankengut in Australien verbreitet und andere zu möglichen Terrorakten aufhetzt, macht sich strafbar und die Behörden dürfen sogar die Sozialhilfe von Angehörigen einbehalten, wenn einer ihrer Verwandten unter Terrorverdacht steht.
Kolar: Und das betrifft auch die Presse, die Medien: Die "Jetzt erst recht"-Ausgabe von "Charlie Hebdo" soll morgen früh in Frankreich in einer Auflage von einer Million Exemplaren an den Kiosken zu haben sein. Der Anschlag auf "Charlie Hebdo" war ja vor allem ein Anschlag auf die Presse- und Meinungsfreiheit. Die ist aber in Australien momentan nicht durch Terroristen, sondern durch die Gesetzgebung bedroht, oder?
Die Presse hat mehr oder weniger einen Maulkorb
Stummer: Genau das ist hier passiert. Also die neuen Antiterrorgesetze der Regierung geben eigentlich dem Geheimdienst und den Sicherheitsbehörden absolute Narrenfreiheit, denn die Behörden haben jetzt das Recht, eine sogenannte Spezialaktion durchzuführen. Das kann klein sein, ein Telefon abhören, oder das kann groß sein, eine landesweite Antiterrorrazzia.
Egal was: Bei einer solchen Spezialaktion hat die Presse mehr oder weniger einen Maulkorb, vor der Aktion, während der Aktion und sogar hinterher. Das heißt also, egal, ob die Sicherheitsbehörden ihre Macht missbrauchen, egal, ob etwas schiefgeht bei dieser Aktion, ob es vielleicht unschuldige Opfer gibt, egal was: Die Presse darf darüber nicht berichten, nicht jetzt, nicht in zwei Monaten, nicht nächstes Jahr und auch nicht in 50 Jahren.
Wenn es ein Journalist trotzdem tut, dann wandert er hinter Gitter. Und es hilft auch nicht, wenn das Aufdecken dieser Missstände im öffentlichen Interesse wäre. Im Prinzip ist dadurch die Presse wirklich schachmatt gesetzt worden. Niemand wird in Zukunft mehr reden wollen, keine Insider, die Missstände berichten können, keine Whistleblower mehr, all die Leute, die aufdecken können, wenn ein Rechtsstaat in einen Polizeistaat abdriftet, all diese Leute sollen damit mundtot gemacht werden. Und das hat mit Demokratie dann, ehrlich gesagt, nicht mehr allzu viel zu tun.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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