Anrührende Jugend und schöne Heimat

Von Frieder Reininghaus · 26.09.2012
Junge Mädchen stehen im Mittelpunkt des von Ruhrtriennale-Intendanten Heiner Goebbels Musiktheaterstückes "When the mountain changed its clothing" in der Bochumer Jahrhunderthalle. Die Texte stammen unter anderen von Rousseau, Eichendorff, Gertrude Stein oder Alain Robbe-Grillet.
Adoleszenzfragen sind dem Musiktheater nicht neu oder fremd. Sie kreisen zum Beispiel, frei nach Thomas Manns Erzählung, um die Figur des Tadzio im "Death in Venice" von Benjamin Britten. Auch Gilda in Giuseppe Verdis "Rigoletto", die Tochter des Narren, ist etwa 15 Jahre alt, als sie die einschlägigen Erfahrungen mit einem netten Studenten macht, der sich als Herzog von Mantova entpuppt.

Richard Wagners Senta, die bis in den Tod getreue letzte Beute des Fliegenden Holländers, gehört mit ihren laut hinausgesungenen post-pubertären Wunsch- und Wahnvorstellungen in den Zuständigkeitsbereich der Jugendpsychiatrie. Etliche weniger bekannte historische Opernwerke befassen sich ebenfalls mit Problemen sehr junger Frauen – man denke zum Beispiel an Christoph Martin Wielands und Anton Schweitzers "Rosamunde" (sie wurde in diesem Frühjahr in Schwetzingen ausgegraben).

Die RuhrTriennale kündigte (in Kooperation mit dem Steirischen Herbst) an, "den Umbruch, in dem sich die 40 Mädchen der Carmina Slovenica im Alter von 10 – 20 Jahren aus Maribor befinden", zu thematisieren. Sie tat dies unter Federführung ihres Intendanten Heiner Goebbels und bestens vorbereitet durch die Chorleiterin Karmina Šilec.

Ohne dass sie als Dirigentin sichtbar in Erscheinung getreten wäre, sangen und bewegten sich die mehr als drei Dutzend Elevinnen über die zunächst leere, nur von ein paar umgestürzten Stühlen strukturierte große Aktionsfläche in der riesigen Jahrhunderthalle. Sie plapperten und lärmten mit den Rohrstühlen, klatschten in die Hände und auf die Schenkel, verharrten minutenlang in regungsloser Stille und zeigten Schreittänze – alles vorzüglich und, wenn die Zeitdauern der Episoden nicht zu lang bemessen wurden, mitunter kurzweilig. Nur die Herkunft einiger der fürs Musik-Arrangement verwendeten Melodien verwies auf Slowenien.

Im Übrigen blieb der englisch gesprochene und gesungene Text ganz allgemein und sorgte für eine Distanz zu Metaphern, die auf Deutsch deklamierte womöglich in heikler Weise an das gebrochene Verhältnis der meisten Deutschen (und der Kulturbürger vornan) zur Geschichte der Volksmusik gerührt hätten.

Die Textschiene hat sich der Komponist Goebbels selbst zusammenmontiert aus Werken Rousseaus und Eichendorffs, Adalbert Stifters, Gertrude Steins, Alain Robbe-Grillets, Marina Abramovićs und anderen AurorInnen. Da stellen sich Fragen zu Zeit und Ewigkeit, Generationenfolge und der Endlichkeit aller Individuen. Mit spätberufener Mittelalter-Begeisterung wird die "hohe Frau" besungen und ein kaum ironisch zu nehmendes Loblied auf die reichen Leute angestimmt (überhaupt handelt es sich um eine ironie- und kritikfreie Produktion).

Die Mädchen scheinen "froher Dinge" sein zu wollen und etablieren mit Kuscheltieren auf einem kleinen Rasenstück vor naiven Bildern eine richtig schöne Idylle, in deren Bodenhaftung nur einmal ein Blitzstrahl blutiger Fantasie zuckt. Höchst dekorativ gerät in der Suite der Heimatkünste auch eine Schlechtwetterübung mit Gummistiefeln und Ostfriesennerzen oder die Episode vom kleinen Bruder, der immer wieder stirbt. Die pädagogische Provinz triumphiert am Ende, wenn eine der jungen Frauen in einem berührend-unberührten Monolog "a nice story" über ihre Haltung zur Atombombe aufsagt.

Die neue Konzeptkunst des Heiner Goebbels ist programmatisch "niederschwellig" angelegt und entspricht nicht nur in dieser Hinsicht den Düsseldorfer Vorgaben für die Neuausrichtung des NRW-Renommierprojekts RuhrTriennale. Die Gründung dieses performativen Festivals in Industriebrachen des 19. Jahrhunderts erfolgte zu Beginn des 21. vornehmlich zu Zwecken der neuen Nutzung von steuerlich und überhaupt abgeschriebenen Industrie-Immobilien – im Sinn dieser originären Zweckbestimmung hat der einst sogenannte linksradikale Blasmusikant Goebbels seine Leitungstätigkeit rechts und links des Niederrheins konsequent begonnen.

Das Design ist allemal fein und das Programm schlägt mancherlei Brücken zur Bildenden Kunst, die am Niederrhein auf mehr Förderung und Gegenliebe stößt als das Musiktheater.
Es gibt offensichtlich bessere Zeiten für den Fortgang der Künste und schlechtere. Vor hundert Jahren ereignete sich zeitgleich so etwas wie eine Glückssträhne der Bildenden Kunst, des literarischen Expressionismus, der mit freier Atonalität sich von den Fesseln der klassisch-romantischen Harmonielogik emanzipierenden Musik und nicht zuletzt Sternstunden des vom musikalischen Fortschritt abhängigen Musiktheaters. Béla Bartók schrieb seinen analytisch vorpreschenden "Herzog Blaubart" parallel zum raffiniert ausbalancierten "Rosenkavalier" von Richard Strauss, Franz Schreker seinen "Fernen Klang" zeitgleich zur "Ariadne auf Naxos" und zu Arnold Schönbergs "Pierrot lunaire" – einem Schlüsselstück der Moderne.

Hundert Jahre später hinterlassen die vier hochrangigsten Opern-Sommerfeste (bei teils gut gefüllten Kassen) eine ästhetisch wenig attraktive Saisonbilanz: Die zwei Schwestern auf dem Grünen Hügel haben den Anspruch, Wagner-Werkstatt von irgendetwas wie auch immer geartetem ästhetisch Innovativem zu sein, offensichtlich ebenso abgemeldet wie Alexander Pereiras Salzburger Festspiele einen zwischenzeitlich errungenen historischen Kompromiss zwischen Traditionalismus und Neuerungswillen.

Heiner Goebbels hat die RuhrTriennale zwischen Historismus für die Moderne am Fall Cage, exotisch überpoliertem Rekurs auf Carl Orff (dessen kollektivistische Musiksprache nicht zufällig in der Nazi-Ära verwurzelt blieb) und Jungmädchencharme mit heimatkunstgewerblichem Webrahmen austariert. Damit macht er es der in Düsseldorf derzeit kulturpolitisch tonangebenden rot-grünen Grasnarbe und Landesmutternschaft offensichtlich recht. Und so bleibt – Ironie der Operngeschichte – ausgerechnet das seit Jahrzehnten als französisch-traditionalistisch verortete Festival in Aix-en-Provence als ein letzter Leuchtturm, bei dem der Opernsachverstand nicht abgemeldet und mit George Benjamins "Written on Skin" wenigstens ein großes Format britischer Moderne aufgeboten wurde. Bochum aber erscheint ebenso abstiegsbedroht wie Bayreuth. Vielleicht sollten die beiden Teams ein Relegationsspiel austragen.




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