Annett Gröschner: "Berliner Bürger*stuben. Palimpseste und Geschichten"

Ein Berlinbuch, das in keine Schublade passt

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Annett Gröschner: Berliner Bürger*stuben. Palimpseste und Geschichten
Einblick in das Bewusstsein einer "Ostlerin", die permanent über sich nachdenkt: Annett Gröschners neues Berlin-Buch. © Nautilus Verlag / Deutschlandradio
Von Sieglinde Geisel · 20.04.2020
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Kaum jemand kennt Berlin so gut in so wie Annett Gröschner. Die Historikerin und Schriftstellerin erkundet die Stadt schon seit fast vier Jahrzehnten mit liebevoller Detailversessenheit - nun auch in "Berliner Bürger*stuben. Palimpseste und Geschichten".
Das Inhaltsverzeichnis signalisiert bereits mit dem Verzicht auf Seitenzahlen, dass wir es hier nicht mit einem Sammelband zu tun haben. Dabei wurden fast alle Texte in Annett Gröschners "Berliner Bürger*stuben" bereits woanders veröffentlicht, doch die Autorin hat ihre Reportagen, Essays, Traumprotokolle und Kurznotizen aus den letzten zehn Jahren so geschickt zusammengestellt, dass man sie nicht als Einzeltexte, sondern als Kapitel eines Buchs liest.

Beinahe vergessene Vergangenheit

Es ist ein Berlinbuch, das in keine Schublade passt. Die Stadt Berlin ist mehr als nur ein Thema. Sie ist eine schillernde Hauptfigur, die aus Erinnerung und Gegenwart der Autorin hervortritt. Das Wort "Palimpsest" im Untertitel passt sowohl auf Berlin als auch auf die Erzählweise. In Annett Gröschners Texten schimmert eine Vergangenheit durch, die die 1964 in Magdeburg geborene Autorin selbst schon fast vergessen hat. "Damals erschien uns die Stadt als ein ewiges Provisorium, man bewohnte die kaputten Räume, aber man veränderte sie nicht, als sei man in ihnen nur zu Gast." Man feierte Silvester auf den Dächern des Prenzlauer Bergs, es wurde gesoffen, Geld spielte keine Rolle. Und doch wird hier nichts verklärt: Die DDR habe "die selbstzerstörerische Gabe" gehabt, jedes Talent zurechtzustutzen, "bis es so klein war wie sie".
Solch treffsichere Formulierungen findet man auch über den Westen: "Es war eine andere Freiheit, die wir vor zwanzig Jahren meinten und die mit Eigentum nichts zu tun hatte." Die Gentrifizierung des Prenzlauer Bergs durchzieht das ganze Buch, manchmal nicht ohne Penetranz, was auch daran liegen mag, dass die Autorin selbst zu den Alteingesessenen gehört, die sich die Mieten nicht mehr leisten können, dabei hatte sie seit 1983 hier gewohnt. Beim Lesen gewinnen wir Einblick in das Bewusstsein einer "Ostlerin", die permanent über sich nachdenkt. Mit den Jahren sei "die Ostlerin in mir" geschrumpft, heute verhalte es sich damit wie mit einem Überbein: "Es hat keinen Zweck, es wegzuoperieren, es wächst immer nach. Stört aber auch nicht besonders beim Laufen."

Faszinierende Alltagswelten

Dass man sich in diesem Buch festliest, egal, wo man es aufschlägt, liegt zum einen an der dieser zugleich fantasievollen und genauen Sprache. Die Geschichte der Volksbühne vor der Ära Castorf etwa schnurrt im Zeitraffer vor unseren Augen ab: "Da flattert der Gründungsmythos von den Arbeitergroschen, die das Haus finanzierten, wie eine Fahne auf dem Dach, da dreht sich die Piscator-Bühne bis zur Schwindeligkeit, spektakelt sich Benno Besson durch alle Etagen, krakeelt Schlingensief in der Kantine."
Zum anderen liegt es an den faszinierenden Alltagswelten, in die man in den Reportagen eintaucht: Wir betreten das Berlin der Kleingärten (in Ost und West), erhalten Einblick in die Arbeit der Ankleiderinnen im Deutschen Theater, besuchen den Phantomflughafen BER und lernen die vergessene DDR-Künstlerin Annemirl Bauer kennen, die wenige Monate vor dem Mauerfall starb.
Das ganze Buch wird rhythmisiert durch kurze Texte, die immer wieder auftauchen: Traumprotokolle mit dem Titel "Nach Westen im Traum", oder "Blitzlichter" genannte Kurz-Beobachtungen, die uns für Sekunden an einen Schauplatz versetzen, den wir wiedererkennen, auch wenn wir nie dort waren. "Prenzlauer Berg, M4 Hufelandstraße, 16:12: Das Kindergartenkind, das seine Mutter anschreit: 'Ich will nicht geliebt werden!'"

Annett Gröschner: "Berliner Bürger*stuben. Palimpseste und Geschichten"
Edition Nautilus, Hamburg 2020
328 Seiten, 20 Euro

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