Annelie Ramsbrock: "Geschlossene Gesellschaft"

Wie Gefängnisse als Besserungsanstalten scheitern

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Das Buchcover von Annelie Ramsbrocks "Geschlossene Gesellschaft"
Das Buch zeigt eindrücklich, dass Freiheitsstrafen immer auch physische Folgen für die Häftlinge haben. © Deutschlandradio / S. Fischer Verlag
Von Anne Kohlick · 31.07.2020
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Wer in Deutschland eine Haftstrafe absitzen muss, soll das Gefängnis als besserer Mensch verlassen. Warum dieser Anspruch so oft scheitert, analysiert Historikerin Annelie Ramsbrock anhand westdeutscher Gefängnisse von 1945 bis zur Wende.
"Um einen Staat zu beurteilen, muss man seine Gefängnisse von innen ansehen", schrieb Leo Tolstoi. Für ihre Habilitation hat die Historikerin Annelie Ramsbrock genau das getan. Anhand von Gefängnisakten, kriminologischer Fachliteratur, Briefen von Gefangenen und parlamentarischen Dokumenten hat sie eine Geschichte der bundesdeutschen Haftanstalten geschrieben.
Sie beginnt mit dem Kriegsende 1945, als die Alliierten der willkürlichen, oftmals tödlich brutalen Behandlung der Häftlinge in NS-Zuchthäusern ein Ende setzten, und reicht bis in die 80er-Jahre. Damals gaben Kriminologen und Soziologen die Hoffnung auf, dass deutsche Gefängnisse noch ein Ort der Resozialisierung werden könnten.
Doch genau das sah das 1977 in Kraft getretene Strafvollzugsgesetz der BRD vor: Nicht Strafe wird darin als Ziel der Haft bestimmt, sondern dass die Gefangenen "künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten" führen.

Die Haft als Chance

Das Gefängnis soll also laut Gesetz eine Umgebung sein, in der Täter in ihrer Sozialisation Versäumtes nachholen. Wie es in den 60er-Jahren zu dieser neuen Konzeption von Haft in der Bundesrepublik kam, schildert Annelie Ramsbrock im eher trockenen, rechtshistorischen ersten Teil ihres Buches "Geschlossene Gesellschaft".
Nicht nur hier merkt man, dass es sich um eine gekürzte akademische Arbeit handelt: An 300 Seiten Fließtext schließen ein umfangreicher Fußnotenapparat und das Quellenverzeichnis an. Oftmals verschachtelte, lange Sätze setzen die Kenntnis des "Foucault’schen Machtbegriffs" voraus oder referieren en détail Referentenentwürfe zum späteren Strafvollzugsgesetz.

Häftlinge zu Besuch im Theater

Spannender wird es im zweiten Teil, in dem konkret erklärt wird, welche Veränderungen die neuen Ansprüche an den Justizvollzug in den Gefängnissen bewirkten. Mehr Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung zum Beispiel: So besuchten Vollzugsbeamte aus Tegel mit ausgewählten Gefangenen in den 70er-Jahren Berliner Theater in Zivil.
Auch Schulabschlüsse der 9. und 10. Klasse nachzuholen, wurde hinter Gittern möglich. Ausstellungen mit "Kunst aus dem Knast" fanden in den Feuilletons Erwähnung und wurden zum Publikumserfolg.
Doch nur ein kleiner Teil der Gefangenen nahm diese neuen Angebote wahr. Prägend für die allermeisten blieb die Subkultur der Häftlinge, die eine Kooperation mit dem Aufsichtspersonal klar ablehnte. Als soziale Kontaktperson wurden die wenigsten Wärter wahrgenommen.
Auch daran scheitert das Gefängnis als Ort der Resozialisierung, ein an sich paradoxes Konzept: Wie soll ein Straftäter in der Haft – ausgeschlossen von der Gesellschaft – lernen, wie er sich innerhalb der Gesellschaft zu verhalten hat?

"Freiwillige Kastration" von Sexualstraftätern

Am lebendigsten ist das Buch von Annelie Ramsbrock dort, wo es sich den Schicksalen einzelner Gefangener nähert: zum Beispiel dem eines Geistlichen, der Mitte der 60er-Jahre wegen "Unzucht" mit einem Teenager in Haft saß. Im Gefängnis stimmte der Mittdreißiger zu, sich die Hoden entfernen zu lassen. Nach der Kastration bereute er den Eingriff offenbar: Er bezeichnete sich als "Krüppel", fühlte eine "Minderung" seiner "Persönlichkeit".
Darf ein freiheitlich-demokratischer Staat seinen Häftlingen so etwas antun? Diese ethisch heikle Frage wirft die Autorin auf. Tatsächlich ist eine "freiwillige Kastration" von Sexualstraftätern in deutschen Gefängnissen bis heute erlaubt, obwohl Menschenrechtsorganisationen dagegen Sturm laufen.

Eine Geschichte des Strafens

Annelie Ramsbrock forscht schon seit Langem zur Geschichte der Körper: 2010 hat sie an der Freien Universität Berlin über Schönheitsideale im historischen Wandel promoviert, sich mit Kosmetika und plastischer Chirurgie befasst. Jetzt geht es ihr um die Geschichte des Strafens, die sich im Laufe des 20. Jahrhunderts von körperlicher Gewalt weg entwickelte.
Und doch zeigt "Geschlossene Gesellschaft" eindrücklich, dass Freiheitsstrafen immer auch physische Folgen für die Häftlinge haben: bis hin zum Suizid, der im Gefängnis vier- bis sechsmal häufiger vorkommt als in der freien Bevölkerung.
Eine wichtige historische Untersuchung, die als Sachbuch ein breiteres Publikum ansprechen könnte – wäre da nicht die allzu akademische Sprache und Struktur des Buches.

Annelie Ramsbrock: "Geschlossene Gesellschaft. Das Gefängnis als Sozialversuch – eine bundesdeutsche Geschichte"
S. Fischer Verlag, Berlin 2020
416 Seiten, 25 Euro

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