Anneke Brassinga: "Fata Morgana"

Lyrik über Liebe und Tod

Eine Luftspiegelung am Horizont einer Wüstenlandschaft
Fata Morgana in der namibischen Wüste © imago/Anka Agency International
Von André Hatting · 07.11.2016
Zwischen jubelnder Höhe und abgrundtiefer Traurigkeit liegen in dem Gedichtband "Fata Morgana, dürste nach uns" nur wenige Worte. In einer großen Dichte von Assoziationen und Tonartwechseln geht es immer um existenzielle Themen. Die Übersetzung wirkt allerdings nicht immer überzeugend.
Anneke Brassingas Lyrik wirkt wie die Natur der Dinge auf das sechsjährige Mädchen in ihrem Gedicht Nachrichten: "beängstigend rätselhaft und reizvoll aufdringlich."
Das Rätselhafte entsteht durch die Fülle von Assoziationen, Bildbereichen, Tonartwechseln auf engstem Raum. Im selben Gedicht, manchmal nur wenige Worte entfernt, springt sie aus jubelnder Höhe in abgrundtiefe Traurigkeit:
"Das schönste aller Dinge, / und dann das allererbärmlichste dazu" ; "Wenn ich dich auskotz’, wärst du erkoren". Reizvoll aufdringlich sind die Verse der 1948 im niederländischen Arnheim geborenen Autorin, weil ihre Leidenschaft verführt.
Diese Gedichte sind wie eine polyphone Melodie. Darin überlagern mehrere Stimmen und Stimmungen einander, sie sind komplex komponiert. Nicht zufällig spielt Musik eine wichtige Rolle bei Brassinga. Werke von Haydn, Chopin, Bach und Mozart sind in mehreren Gedichten Ausgangs- und Bezugspunkt. Und wie uns Musik manchmal angenehm überfordern kann mit ihrer Heftigkeit, so überfordert uns Brassinga zuweilen mit ihren Strophen, in denen es immer ums Ganze geht, um Dasein, Liebe, Tod:
Ist Sterben gar ein Atemzug, bei dem
man unverhofft den Himmel draußen mit nach drinnen holt?

Der Himmel der Sprache in der Dichtung

Brassinga holt den Himmel der Sprache in ihre Dichtung. Der besteht aus dem literarischen Fundus, den sie als Übersetzerin von Sylvia Plath, Ingeborg Bachmann, Samuel Beckett und anderen über Jahre angesammelt hat.
Leider wirken ausgerechnet die Übersetzungen ihrer eigenen Gedichte nicht immer überzeugend. Wenn Oswald Egger "De aardappelen van het goede en het schoene" mit "Die Grundbirnen des Guten und Schönen" übersetzt, bereichert er zwar das niederländischen Original um eine hübsche Alliteration, aber der Preis erscheint ein wenig hoch.
"Grundbirnen" als Bezeichnung für Kartoffeln ist wenig verbreitet und ergibt einen exotischen Effekt, den Brassinga mit ihren Erdäpfeln nicht setzt. Worin die Notwendigkeit besteht, "madeliefje" nicht einfach ein Gänseblümchen sein zu lassen, um ein anderes Beispiel zu wählen, sondern als "Masliebchen" zu übertragen, ist ebenfalls nicht ganz klar. An dieser Stelle wird noch ein anderes Problem deutlich. Brassinga schreibt:
Hoe krijg je een madeliefje open
dat is dichtgegaan?
Egger dichtet:
Wie schließ ich ein Masliebchen auf,
nicht noch offen?
Egger baut durch seine Inversion in den Fluss der Rhythmik einen Staudamm, wo Brassinga Stromschnellen nutzt. Aber dieser Auswahlband erscheint zweisprachig, der Blick auf das Original ist manchmal nützlich.
Würde man Brassingas Lyrik, in ihrer Heimat seit Jahren gefeiert und gepriesen, mit einem Bild vergleichen wollen, dann vielleicht mit einem dieser gezeichneten Paradoxien ihres Landsmannes M. C. Escher: Mit unseren Alltagssinnen nie ganz zu greifen und deshalb faszinierend.
Mehr zum Thema