Annäherung zweier Weltreligionen

11.06.2008
Christentum und Judentum sind sich von Beginn an in Abgrenzung und Gemeinsamkeit verbunden. Der Historiker Michael Wolffsohn versucht einen neuen Blick auf diese Geschichte: Das Judentum sei im Verlauf von 2000 Jahren Geschichte christlicher geworden, das Christentum jüdischer - bis zum Einschnitt des Holocaust, behauptet Wolffsohn in seinem Buch "Juden und Christen - ungleiche Geschwister".
Die jüdisch-katholischen Beziehungen liegen mehr oder weniger auf Eis, seit der Vatikan zu Beginn des Jahres eine Revision der traditionellen Karfreitagsliturgie bekannt gab, verfasst von Papst Benedikt XVI. persönlich. In dieser Liturgie betet die katholische Kirche auch "für die Juden". Über Jahrhunderte hieß es "für die treulosen Juden", und allein diese Formulierung war immer wieder Anlass für gewalttätige Angriffe auf jüdische Gemeinden. Die Reformer in der Folge des Zweiten Vatikanischen Konzils strichen die Formulierung. Papst Benedikt ist nicht ganz zum Alten zurückgekehrt, möchte nun aber, dass dafür gebetet wird, dass die Juden "Jesus Christus als Heiland aller Menschen erkennen". Eine direkte Aufforderung zur christlichen Judenmission, urteilten nicht nur Juden. Beim Katholikentag in Osnabrück Ende Mai sagten mehrere jüdische Referenten ab. Auch wenn die Veranstaltung selber dann recht versöhnlich verlief, bleiben die Beziehungen angespannt.

Vor diesem Hintergrund liest sich das neue Buch des Münchner Historiker Michael Wolffsohn noch einmal spannender, denn es vermeidet schon im Titel jede falsche Freundlichkeit: "Juden und Christen – ungleiche Geschwister. Die Geschichte zweier Rivalen." Wolffsohn hat keinen direkten Kommentar zum aktuellen Streit geschrieben – die Revision der Liturgie und das Fertigstellen des Buches überschnitten sich zeitlich. Dennoch ergreift er mit dem Buch so deutlich Partei wie mit seinen Statements direkt zur Liturgiereform, die er als größten Rückschritt für die katholisch-jüdischen Beziehungen seit 1945 bezeichnet hat.

Wolffsohn setzt durchaus spektakuläre Akzente. Das Christentum und mit ihm das angeblich so christliche Abendland sei eigentlich "jüdisch", das Judentum hingegen habe über beinahe zweitausend Jahre Kirchengeschichte alle entscheidenden Merkmale des Christentums verwirklicht. Wolffsohn kommt zu diesem Schluss, indem er unter Christen verbreitete Vorurteile über den Inhalt der Bibel ernst nimmt und zu Zuschreibungen macht. Die Vorurteile besagen in etwa: das Alte Testament sei "alttestamentarisch" in seinem harten, erbarmungslosen, eifernden Gott, den es darstelle. Ihm entspreche ein vor allem auf politischen Machtgewinn ausgelegter Glaube. Das Neue Testament dagegen sei sanft, vergebend, verkünde einen Gott der Liebe und zeige in Jesus Christus dessen idealtypische Verkörperung – Wolffsohn findet diese Sanftheit als durchaus politisches Programm vor allem in der Bergpredigt. Er nimmt diese Schematisierung ernst – nicht als Zuschreibung für "das" Jüdische beziehungsweise "das" Christliche, sondern als "Typen" von Religion. Dann fragt er danach, wann jeweils in der Geschichte des Judentums und des Christentums welcher Typus von Religion verwirklicht wurde. Zwei entscheidende Zeitenwenden sieht Wolffsohn dabei: zum einen die Mitte des ersten Jahrhunderts, zum anderen das Ende des Zweiten Weltkrieges.

Mitte des ersten Jahrhunderts fielen die Kreuzigung (und Auferstehung) Jesu Christi und die endgültige Zerstörung des jüdischen Tempels fast zeitgleich zusammen. Beide Religionen mussten sich neu konstituieren. Das Christentum naturgemäß, weil es gerade erst entstand. Das Judentum, weil es aus einem Tempelkult mit Priesterhierarchie zu einer "transportablen", allein auf die Schrift gegründeten Religion werden musste, um bestehen zu können.

In dieser Phase des Umbruchs, so Wolffsohn, ist nun erstaunliches geschehen. Es war das Christentum beziehungsweise die junge Kirche, die das fortsetzte, was – später – als alttestamentarisch verunglimpft wurde: Hierarchie, politische Großmachtansprüche, plumpe Polemik gegen Andersdenkende. Das talmudische Judentum hingegen übernahm die sanfte Friedensrhetorik Jesu Christi. Auch um sich von der Kirche abzusetzen – denn das ist eine zweite Umdeutung, die Wolffsohn vornimmt: neben der inhaltlichen (über die Unterscheidung alttestamentarisch – jesuanisch) eine zeitliche. Nicht die Kirche habe sich vom Judentum abgesetzt, sondern das talmudische Judentum von der frühen Kirche und beide gemeinsam vom alten Judentum der vorchristlichen Zeit. Deswegen auch sind Christentum und Judentum Geschwister und in Geschwisterrivalitäten verstrickt – bei denen allerdings die Fronten klar verteilt sind. Denn die Kirche ist nach Wolffsohns Analyse ihrer Bestimmung nie gerecht geworden.

Erst mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, der wiederum fast mit der neuen Staatsgründung Israels 1948 zusammenfällt, haben sich die Verhältnisse wieder umgekehrt. Die Kirche, ihrer Schuld am Judentum bewusst geworden, gibt sich jesuanischer (wie gesagt, das Buch kann noch nicht den neusten Streit um die Karfreitagsliturgie spiegeln). Das Judentum kann mit der Staatlichkeit an die Vorbilder des Alten Testaments anschließen. Was dieser Umschwung wirklich bedeutet, führt Wolffsohn leider nicht weiter aus, sein Schwerpunkt liegt auf der Analyse der 2000 Jahre mit vertauschten Rollen davor.

Diese Form der Analyse öffnet einen interessanten Blick auf religiöse Entwicklungen in Kirche und Judentum. Letztlich überzeugen kann sie nicht. Denn zu schwammig bleiben die Kategorien "alttestamentarisch" und "jesuanisch", zu sehr auch schon im Dienste der zu beweisenden Hypothese formuliert. Vor allem der Blick auf die Kirchengeschichte scheint zu konstruiert. Kirche bedeutet für Wolffsohn letztlich katholische Kirche. Das römische Papsttum mit seinem quasi alttestamentarischen Anspruch entstand aber eben erst im vierten und fünften Jahrhundert unserer Zeitrechnung, es schließt nicht direkt an die Bergpredigt an. Wie überhaupt Wolffsohn das "Jesuanische" mit einer fast naiv ungebrochenen Analyse der neutestamentlichen Texte entwickelt (und mit dem Jesusbuch von Papst Benedikt XVI. als wichtigster Quelle), fern jeder historisch-kritischen Einschätzung, wie er sie für die Texte des Alten Testaments sehr wohl in Betracht zieht. Seine Darstellung des talmudischen Judentums der ersten Jahrhunderte unserer Zeit ist denn auch wesentlich differenzierter und überzeugender.

Wolffsohn sieht es dennoch als eine Notwendigkeit für Juden und Christen, im Gespräch zu bleiben. Nicht als Geste des guten Willens, sondern als eine Notwendigkeit, da beide Seiten viel enger miteinander verknüpft seien, als sie das jeweils wahrhaben wollten, und seit dem neuerlichen Umbruch nach 1945 viel aus der Geschichte des jeweils anderen lernen könnten. Wie diese Verknüpfung funktioniert, darum geht es Wolffsohn in seinem Buch.

Rezensiert von Kirsten Dietrich

Michael Wolffsohn: Juden und Christen - ungleiche Geschwister
Die Geschichte zweier Rivalen

Patmos 2008
200 Seiten, 19,90 Euro