Anna Calvi: "Hunter"

Queerer Flamenco-Pop

Anna Calvi bei einem Konzert im Berghain in Berlin
Wie ein Befreiungsschlag: Die Texte ihres neuen Albums sind intensiv und aggressiv. © imago / Votos-Roland Owsnitzki
Von Christoph Reimann  · 30.08.2018
Die britische Songwriterin und Gitarristin Anna Calvi erkundet auf ihrem neuen Album "Hunter" ihre eigene sexuelle Identität. Sie verbindet damit ein queeres Manifest - und gibt zum ersten Mal Einblick in ihr Privatleben.
"Als ich Teenager war, fühlte ich mich sehr allein. Und daher rührt auch die Inspiration für das Album: Ich wollte eine Platte machen, die mir damals, als Jugendliche, geholfen hätte", so Anna Calvi. Sie ist in London aufgewachsen. Statt mit Puppen spielte sie mit Autos, war mehr kleiner Junge als Mädchen, wie sie heute, mit Mitte 30, sagt. Sie sei keine Transperson, fühle sich aber auch nicht komplett als Frau.

Sexualität als wildes, hässliches Wesen

Das Album "Hunter" ist der Versuch, spielerisch die eigene sexuelle Identität zu erforschen. Im Song "Hunter" besucht die Protagonistin einen queeren Safe Space, vielleicht einen Sexclub.

"Ich kleide mich in Leder, mit Blumen in meinem Haar", singt Anna Calvi – verführerisch, fordernd, ihre Gitarre schnalzt wie eine Peitsche. "Mir gefällt die Vorstellung der menschlichen Sexualität als wildes, hässliches, unzähmbares Wesen. Diese Momente der Freiheit haben etwas Transzendentales, Schönes, nahezu Göttliches. Wenn man mit jemandem zusammen ist und einen intimen Moment miteinander teilt", erklärt die Musikerin.

Ein queeres Manifest

Für den, der’s hören wollte, war der Flamenco-Pop von Anna Calvi schon immer queer. Zum Beispiel, wenn sie auf ihrem Debüt "I’ll be your man" sang, bestimmt, ohne dass es daran irgendeinen Zweifel gäbe. Einen Einblick in ihr Privatleben gewährt die so zart wirkende Britin aber erst jetzt, mit dem dritten Album: Zum Valentinstag hat sie ein Foto von sich und ihrer Freundin gepostet, die neue Platte wird von einem queeren Manifest begleitet. Die Forderung: sein, wer man sein möchte, nicht das, was die Gesellschaft von einem erwartet. Am Anfang der neuen Offenheit stand für Calvi ein Aufenthalt in Straßburg, bei ihrer neuen Freundin.

"Ich hatte gerade eine achtjährige Beziehung hinter mir. Wenn man irgendwo noch mal neu anfängt, dann muss man sich auch selbst neu aufstellen. Das hat automatisch zu diesen Genderfragen geführt", sagt die junge Britin - und zu einer Hymne wie "Don’t Beat The Girl Out Of My Boy". Der Song ist eine Loblied auf das queere Miteinander, das Einstehen füreinander – und damit charakteristisch für eine fortschreitende Veränderung im Pop. Denn lange waren queere Charaktere sonderbare Einzelgänger, todtraurig und ohne Ziel im Leben. Noch immer ist die Zahl von LGBTI*-Teenagern, die unter Depressionen leiden oder Selbstmord begehen, vergleichsweise hoch. Dass Popmusiker wie Anna Calvi gerade in Zeiten, in denen die USA und Europa einen konservativen Backlash erleben, solche positive Botschaften aussenden, ist wichtig. Und zumindest bei Calvi eine bewusste Entscheidung.

"Es geht ums Glücklichsein. Nicht darum, sich als Opfer zu betrachten. Es geht darum, den Spaß, den man haben kann, voll auszukosten", ist Calvi überzeugt.

"Album des Körpers, nicht des Kopfes"

Was auffällt bei Anna Calvi und queeren Kolleginnen wie Christine And The Queens oder St. Vincent: Sie haben sich in ihrer Performance freigemacht vom sogenannten Male Gaze, dem Blick der Männer. Wenn Anna Calvi bei ihren Konzerten zum Gitarrensolo ausholt und auf dem Boden robbt, geht es nicht darum, dem Hetero-Mann zu gefallen, obwohl sie alle Register zieht. Die sexuell aufgeladene Bühnenshow ist vielmehr Ausdruck einer selbstbestimmten Freiheit. Und ob das dem alten Pop-Konsumenten Nummer eins, dem straighten Mann, passt oder nicht, ist ihr im Zweifelsfall ganz egal.
Zehn Songs befinden sich auf dem Album "Hunter". Sie spiegeln die Körperlichkeit der Texte, sind aggressiver und intensiver als die Songs auf den beiden Vorgänger-Alben. Anna Calvi sagt: "Diese Musik soll mein Befreiungsschlag sein. Sie soll die Eingeweide erreichen, animalisch sein. Es ist ein Album des Körpers, nicht des Kopfes."
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