Anna Baar: "Nil"

Poetische Selbstbefragung

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Cover des Romans "Nil" von Anna Baar.
Lässt der Leser sich auf "Nil" ein, wird er überrascht von der Tiefe und Schönheit der Gedanken, sagt unser Kritiker Carsten Hueck. © Deutschlandradio / Wallstein Verlag
Von Carsten Hueck · 26.03.2021
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Was geschieht der Schreibenden, wenn sie sich dem Schreiben anheimgibt? Wirkt Fiktion auf die Wirklichkeit ein? Anna Baars Roman "Nil" ist eine poetische Selbstbefragung voller origineller, anrührender, grotesker und grausamer Bilder.
Nil – drei Buchstaben, die sofort einen Strauß an Assoziationen hervorzaubern: Man mag an jene schlichte blaue Zigarettenpackung denken, aber natürlich auch an ferne Welten, Ägypten, Barken und Pyramiden, das tropische Ostafrika, den Victoriasee, wilde Tiere und tapfere Entdecker.
Mit all dem hat der neue Roman der in Wien lebenden Autorin Anna Baar vordergründig gar nichts zu tun. Und doch entführt er uns in Gefilde, die exotisch anmuten – wenn man darunter etwas versteht, das fremdartig und zugleich zauberhaft wirkt. Mitunter kann das ein Blick in die eigene Kindheit sein, ein gespiegeltes Ich, ein Selbstentwurf, der sich verzerrt, je nachdem, wie nah man ihm kommt.

Klein und verspielt, aber nicht leicht zu nehmen

Es gibt in diesem kleinem, verspielten, aber überhaupt nicht leicht zu nehmenden Roman eine Ich-Erzählerin, die Fortsetzungsstorys für ein Frauenmagazin schreibt. Es gibt ein kleines Mädchen, deren Vater Direktor eines Zoos ist, aus dem einfach ein Krokodil verschwindet. Eine Frau, die in einem Lokal einem fremden Mann Kapitel aus ihrem Leben diktiert. Dieser Mann kommt sich vor wie ein Filmstar - im falschen Film.
Und es gibt den Satz: "Es gibt in dieser Geschichte keine Personenbeschreibung." Es gibt viel Widersprüchliches, aber irgendwie passt alles zusammen. Denn Fiktion und Realität unterscheiden sich nicht voneinander in "Nil".
Wollte man herausfinden, wo was beginnt oder endet, wäre das, als baute man Staudämme in den erzählerischen Fluss, als bemühte man sich zu begradigen, was natürlicherweise seinen Lauf nimmt. Lässt man sich ein auf "Nil", wird man getragen - und überrascht von der Tiefe und Schönheit der Gedanken und Formulierungen.
Die Figur der Schreibenden in dem Roman bekommt vom Chefredakteur den Auftrag, ihre Fortsetzungsgeschichte schnell zu beenden, "meinetwegen indem sich das Paar ein Herz nimmt und von einer Klippe springt". Da die Schreibende aber der Literatur und weniger dem Einwegjournalismus zugeneigt ist, kommt sie ins Erzählen, findet immer neue Kniffe und Ansätze, das platte Ende hinauszuzögern, und verschmilzt zunehmend mit ihren Figuren.

Grotesk und grausam

Man könnte einwenden, dass solch postmoderne Spielchen längst passé seien, doch Anna Baar stellt mit diesem Verfahren ganz konkret existenzielle Fragen: Wo komme ich her, wie erfahre ich mich, wer bin ich, wo will ich hin im Leben? Wie begegne ich der Welt, den anderen?
Ihr Text ist eine poetische Selbstbefragung. Und eine Poetik selbst – was geschieht der Schreibenden, wenn sie sich dem Schreiben anheimgibt? Wirkt eine Fiktion auf die Wirklichkeit ein? Einnehmend ist die Leichtigkeit des Textes, der heitere Ton, selbst wenn es um Kindheitstraumata, Dunkles und Bedrohliches geht.
Anna Baars Bilder sind originell, anrührend, grotesk und grausam: Die Mutter, die sich mit einem Küchenmesser auf ein aufblasbares Krokodil stürzt, Kopulationen am Küchentisch, Geschwister auf dem Küchenregal: "Drei Honiggläser, randvoll mit Formalin, darin die Nasspräparate. Auf jedem ein Klebeschild, Namen in blassblauer Schönschrift – Ilse, Pippa und Klaus."
"Nil" ist ein Fortsetzungsroman ohne Ende – immer wieder zu lesen. Und wie in guten Serien erkennt und versteht man dabei immer Neues, ohne dass es je langweilig wird.

Anna Baar: "Nil"
Wallstein Verlag, Göttingen 2021
148 Seiten, 20 Euro

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