Ann Quin, Brigid Brophy, Anna Kavan

Wiederentdeckte Stimmen der experimentellen Literatur

28:43 Minuten
Fotografie einer weiblichen Hand in der Unschärfe vor einer Schreibmaschine.
In den 60ern gefeiert, gerieten Ann Quin, Brigid Brophy und Anna Kavan bald danach in Vergessenheit. © unsplash / David Klein
Von Michael Hillebrecht  · 09.07.2021
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Mit ihrer Sensibilität für Genderfragen und ihrem experimentellen Stil waren Ann Quin, Brigid Brophy und Anna Kavan ihrer Zeit weit voraus. Erst seit Kurzem bekommen die drei britischen Autorinnen der 1960er wieder die Aufmerksamkeit, die sie verdienen.
"Ann Quin ist eine ganz einzigartige weibliche literarische Stimme. Ich habe nichts Vergleichbares von Schriftstellerinnen in der damaligen Zeit oder auch heute gelesen", sagt die Lektorin Anna Schloss.
"Sie ist eine sehr wichtige Schriftstellerin. Sie ist viel besser als die meisten männlichen Schriftsteller, die an ihrer Stelle gefeiert wurden", fügt der Autor Tom McCarthy an.
Und Hannah van Hove ergänzt: "Besonders Ann Quin und Brigid Brophy wurden in den 1960er-Jahren bewundert. Ihr Schreiben galt als aufregend und innovativ." Hannah van Hove hat sich in Aufsätzen und als Herausgeberin von Sammelbänden mit dem Werk von Ann Quin, Brigid Brophy und Anna Kavan auseinandergesetzt. Sie stehen für einen experimentellen Strang in der britischen Literatur, der damals auch in Deutschland durch einige Übersetzungen ihrer Werke große Beachtung fand. Ab den Siebzigerjahren seien die drei Autorinnen dann nach und nach in Vergessenheit geraten.

Neues Interesse an experimenteller Literatur

Erst 2006 stieg das Interesse an dieser experimentellen Literatur in Großbritannien wieder. Der Grund war das Erscheinen einer neuen Biografie über B.S. Johnson. Johnson war in den 1960er-Jahren ein wichtiger Vorreiter der experimentellen Literatur in Großbritannien. In der Folge begann eine neue Generation von Schriftstellerinnen und Schriftstellern, sich auch mit den Autorinnen dieser besonderen britischen Literatur der 1960er-Jahre zu beschäftigen.
"Ihre Romane wurden neu aufgelegt, sogar eine Anna-Kavan-Gesellschaft existiert jetzt. Die Autorinnen bekommen nun die Aufmerksamkeit, die sie verdienen", so Hannah van Hove.
Carole Sweeney befasst sich in ihrer Monografie "Vagabond Fictions" mit dem Werk von Quin, Brophy und Kavan. Sie sieht auch Verbindungen zu heutigen britischen Autorinnen. Ali Smith etwa habe sich sehr positiv über die Verspieltheit und die Wortspiele bei Brigid Brophy geäußert.
Tom McCarthy wiederum, bekannt geworden durch seine experimentellen Romane "8 ½ Millionen" und "K", sieht in seinem eigenen Werk Bezüge zu Ann Quin. Er findet bei ihr viele Aspekte wieder, die auch für sein eigenes Schreiben wichtig sind und nennt vor allem das Anknüpfen an Traditionen der Moderne.

Mit einem Knall betritt Ann Quin 1964 die Bühne

Ann Quin betritt 1964 mit einem großen Knall die literarische Bühne. Ihr Debütroman "Berg" beginnt mit einem Satz, der vielen im Gedächtnis blieb:
"Ein Mann namens Berg, der sich Greb nannte, kam in eine Küstenstadt, um seinen Vater zu ermorden …"
Angesiedelt ist der Roman "Berg" mit seiner neuzeitlichen Variante des Ödipus-Stoffes in einem sehr britischen und sehr skurrilen Milieu.
"Alistair Berg ist Haarwuchsmittel- und Perückenverkäufer", erläutert Anna Schloss, im Marix-Verlag als Lektorin für die deutsche Übersetzung von "Berg" verantwortlich. "Sein Vater hat ihn und seine Mutter schon sehr früh verlassen und als erwachsener Mann begibt er sich jetzt auf die Suche nach dem Vater."
Berg macht seinen Vater in einem der typischen britischen Seebäder ausfindig. Dort tritt dieser in Varietés als Bauchredner auf. Berg mietet sich in derselben Pension ein, in der sein Vater mit seiner jetzigen Geliebten lebt.
"Quin bringt surreale Elemente, komische Elemente, groteske Elemente mit rein, das ist nicht alles ganz ernst. Zum Beispiel als Berg sich als Frau verkleidet und dann mit dem Vater ins Gespräch kommt und der mit ihm versucht anzubandeln und so weiter. Oder wie er die Bauchrednerpuppe des Vaters in einen Teppich gewickelt durch die halbe Stadt schleift, in der vollsten Überzeugung, es wäre sein toter Vater", so Anna Schloss.

Eine Avantgarde-Schriftstellerin aus der Arbeiterklasse

Ann Quin wurde 1936 in Brighton geboren. Auch ihr Vater verließ die Familie schon früh.
"Sie wurde als ein seltenes Phänomen in der englischen Literatur beschrieben: Eine Avantgarde-Schriftstellerin aus der Arbeiterklasse", erläutert Hannah van Hove.
Kleine, enge, möblierte Zimmer machen einen Großteil der Schauplätze ihres Romans "Berg" aus. Quin kennt sie aus eigener Erfahrung. Vor ihrem literarischen Durchbruch schlug sie sich jahrelang als Sekretärin in London durch und lebte in recht beengten Verhältnissen. Stilistisch knüpft die Autorin in ihrem ersten Roman an die Tradition der literarischen Moderne an, etwa bei Virginia Woolf oder James Joyce.
Anna Schloss meint dazu: "Man sitzt sozusagen im Kopf des Protagonisten und hört und liest ungefiltert alles, was ihm durch den Kopf geht, also seinen Bewusstseinsstrom, die Assoziationen, die Zeitsprünge in seinen Gedanken."

Ann Quin war nicht nur in England bekannt

Auch in Deutschland wird Ann Quin wahrgenommen, neben "Berg" werden in den folgenden Jahren zwei weitere Romane von ihr übersetzt. Quin selbst verlässt Großbritannien im Jahr 1966. Literaturpreise und Stipendien ermöglichen ihr einen längeren Aufenthalt in den USA.
In den USA lebte Quin einige Zeit in New Mexico, wo sie die Weite der wüstenartigen Landschaft sehr schätzte. Hier machte sie Erfahrungen mit psychedelischen Drogen wie LSD und Peyote – für Jennifer Hodgson ändert sich damit auch der Ton ihres Schreibens.
Nach ihren ersten beiden Romanen begann Ann Quins Stern bei der britischen Literaturkritik allerdings zu sinken. In ihren Romanen werden jetzt die Grenzen zwischen den Figuren fließend, Dialoge gehen ohne typografische Unterscheidung nahtlos in beschreibende Erzählpassagen über. Erzählungen in der Ich-Form wechseln plötzlich in die dritte Person, obwohl immer noch die gleiche Figur im Zentrum steht.
"Das Ich ist bei Quin kein festes, stabiles Ego. In ihren formalen Experimenten ist es oft flüssig und nicht statisch", erläutert Hannah van Hove.
Ihre Erfahrungen mit dem amerikanischen Lebensstil verarbeitete Quin besonders intensiv in ihrem letzten Roman "Tripticks".
"Sie nahm sich amerikanische Zeitschriften und Werbetexte vor", sagt Jennifer Hodgson, "und schnitt sie aus und setzte dieses Sprachmaterial neu zusammen".
Für den Autor Tom McCarthy war sie damit ihrer Zeit voraus. Erst in der heutigen Zeit würden vergleichbare Texte veröffentlicht.

Nachlassender Erfolg und psychiatrische Erfahrungen

So avantgardistisch ihre Texte heute anmuten, für Quin führten der nachlassende Erfolg ihrer Romane und ihre Geldnot in eine existenzielle Krise. Nach einem Nervenzusammenbruch wurde sie in die Psychiatrie eingewiesen.
"Sie bekam Elektro-Schocks und starke Medikamente. Sie hatte danach das Gefühl, ihre Kreativität, ihre Sprache und die besondere Form der Aufmerksamkeit, die sie für das Schreiben brauchte, verloren zu haben", so Jennifer Hodgson.
1973 wird Ann Quins Leiche unweit ihres Geburtsorts Brighton an der Küste aufgefunden, vermutlich beging sie Selbstmord. Ihr letzter Roman "The Unmapped Country" blieb unvollendet. Quin thematisiert darin ihre Erfahrungen in der Psychiatrie.

Brigid Brophy: Künstlerin, Kritikerin, Aktivistin

Brigid Brophy sei wirklich sehr außergewöhnlich gewesen, sagt Carole Sweeney. "Sie selbst beschrieb sich als verheiratete, vegetarische Sex-Pazifistin. Für die Zeit sehr ungewöhnlich waren auch ihre offene Ehe und ihre offen gelebte Bisexualität."
Brigid Brophy, Jahrgang 1929, veröffentlichte ihre ersten Romane in den 1950er-Jahren. Sie trat ebenfalls als äußerst scharfzüngige Literaturkritikerin in Erscheinung und verfasste wichtige Studien zu Mozart und Freud.
Die Übersetzerin Jennifer Hodgson beschreibt sie so: "Sie vereinte viele Widersprüche in sich. Sie studierte in Oxford, wurde dort aber rausgeworfen. Sie war vornehm, aber auch wieder nicht. Sie war sehr intellektuell, aber trotzdem ständig im Fernsehen zu sehen. Sie war eine öffentliche Intellektuelle."
Schwarzweißporträt einer Frau mit halblangen, leicht lockigen Haaren und gemustertem Oberteil, in einem Spiegel sieht man sie zugleich schräg von hinten.
"Verheiratete vegetarische Sex-Pazifistin": So bezeichnete sich die Schriftstellerin Brigid Brophy.© picture-alliance / United Archives/TopFoto | 91050/United_Archives/TopFoto
Brigid Brophy war auch als politische Aktivistin sehr engagiert. Sie setzte sich für Tierrechte und gegen Vivisektion ein. In einem Ausschnitt aus einer Diskussion im BBC-Fernsehen greift sie deshalb einen Befürworter der Treibjagd scharf an, sie sagte:
"Sie brauchen doch gar keinen echten Fuchs, Sie können doch einen elektrischen Fuchs jagen. Warum konzentrieren Sie sich nicht darauf, so etwas zu erfinden?"

Geschlechterpolitik im Kontext Don Giovannis

Wie in ihrem Leben vereinte Brigid Brophy auch in ihren literarischen Texten scheinbar gegensätzliche Elemente:
"Sie schrieb experimentelle Literatur, bezeichnete das aber als 'rückwärts-gewandte Innovation'. Sie suchte also nicht nach vollständig neuen Formen, sondern überarbeitete ältere Formen in ihrem eigenen Stil. In 'Der Schneeball' etwa thematisiert sie zeitgenössische Geschlechterpolitik im Kontext von Mozarts Oper 'Don Giovanni' aus dem 18. Jahrhundert", sagt Carole Sweeney.
In dem Roman besucht eine Frau namens Anna K. einen Kostümball. Sie ist als Donna Anna aus Mozarts Oper "Don Giovanni" verkleidet. Bei dem Fest trifft sie einen maskierten Unbekannten, dessen Kostümierung Don Giovanni darstellt.
Carole Sweeney weiter: "Das Verlangen und die Erotik sind ganz auf Anna K.'s Seite; Don Giovanni spielt nur eine Nebenrolle. Eine sehr bekannte und recht lange Passage beschreibt einen weiblichen Orgasmus. In Brigid Brophys Werk wird die Vorstellung, dass nur Männer begehren können und nur der männliche Blick wichtig ist, pulverisiert."
In "Der Schneeball" heißt es an einer Stelle:
"Ihr Körper litt, schluchzte, schwoll an, bewegte sich ruckartig, schwitzte und zuckte zuletzt unter jener Woge, die sich in ihr brach."

Genderidentität im Fluss

"Barock und Rokoko sind für Brophy interessant", führt Carole Sweeney weiter aus, "weil damals Vorstellungen von Natürlichkeit, Einheit und Totalität infrage gestellt werden. Mit ihrem experimentellen Schreiben tut sie das auch und sagt, in Wirklichkeit sei alles künstlich."
1969 radikalisiert Brigid Brophy diesen formalen wie inhaltlichen Ansatz in ihrem Roman "In Transit". Die Hauptfigur Pat oder Patrick oder Patricia O'Rooley strandet im Transitbereich eines Flughafens. Aufgrund einer Krankheit namens "linguistische Lepra" verliert O'Rooley das Wissen über das eigene Geschlecht. Mühsam versucht die Hauptfigur des Romans, aus den Reaktionen ihrer Mitmenschen im Flughafen Rückschlüsse auf ihr Geschlecht zu ziehen. Dies führt zu Kaskaden von Wortspielen.
"Sie geht noch weiter und lenkt den Blick darauf, wie Gender von außen konstruiert wird. Bei Pat oder Patrick oder Patricia handelt es sich um Körper im Übergang zwischen männlich und weiblich. Ihre Genderidentität ist im Fluss."

Als Autorin ihrer Zeit weit voraus

"In Transit" sei eine Art Anti-Roman. "Die Genrekonventionen werden auseinandergenommen und zu einem neuen metafiktionalen Gerüst zusammengesetzt. Die Lesenden werden ständig darauf hingewiesen, dass Regeln gebrochen werden", so Sweeney.
Wieder einmal, so scheint es, war eine Autorin ihrer Zeit zu weit voraus. Mit "In Transit" hatte Brigid Brophy weniger Erfolg bei Publikum und Kritik. Vielleicht auch deshalb kehrte sie mit ihren weiteren Veröffentlichungen zu gemäßigteren Formen des Experimentierens zurück. Brigid Brophy starb 1995 nach langer Krankheit an den Folgen von Multipler Sklerose.
Bei der Lektüre ihrer Romane verwundert es nicht, dass gerade junge Autorinnen und Autoren in ihr eine Verbündete im Geiste sehen. Im Hinblick auf ihre inhaltliche und formale Experimentierfreude ist Brophy mit ihrem Roman "In Transit" auch heute noch äußerst aktuell. Leider liegt der Roman bis jetzt noch nicht in deutscher Übersetzung vor.

Anna Kavan: Schreibphasen und ein neuer Name

Anna Kavan wurde 1901 geboren und gehört damit einer früheren Generation an als Ann Quin und Brigid Brophy.
"Ihr Werk teilt sich in zwei Phasen: In der ersten Phase schreibt sie konventionelle realistische Romane, aber in der zweiten Phase publiziert sie sehr experimentelle und traumartige Phantasmagorien", erklärt Carole Sweeney.
In der ersten Phase veröffentlichte Kavan unter ihrem bürgerlichen Namen Helen Ferguson. Erst 1940, mit Beginn der zweiten Phase und einer veränderten Schreibweise, legte sie sich den Künstlernamen Anna Kavan zu.
"Sie wollte einen radikalen Bruch mit ihrer Vergangenheit. Sie war sehr unglücklich und hatte sich von ihrem Mann getrennt. Nach einem Nervenzusammenbruch wurde sie für einige Zeit in eine psychiatrische Klinik eingewiesen," so Hannah van Hove.
Kavan hatte in ihrer Kindheit unter der Vernachlässigung durch ihre reichen und weitgereisten Eltern gelitten. Sexuell völlig unerfahren, war sie in ihrer ersten Ehe der Gewalttätigkeit ihres Mannes ausgeliefert. Nach ihrer bewussten Persönlichkeitswandlung firmierte sie auch im Alltag unter dem Namen Anna Kavan. Sie färbte ihre Haare kristall-blond und unternahm trotz des Zweiten Weltkriegs als unabhängige Frau ausgedehnte Reisen in die USA, nach Südostasien und Neuseeland.

Heroin und Psychoanalyse

Schon vor ihrer Verwandlung war Kavan das zu dieser Zeit noch legale Heroin verordnet worden. "Heroin wurde ihr wahrscheinlich als Schmerzmittel und zur Linderung ihrer Depressionen und Selbstmordgedanken verschrieben", sagt Carole Sweeney.
"Sie war aber kein Junkie, der Texte über Abhängigkeit verfasste. Das Heroin ermöglichte ihr genauso wie die von ihr durchlaufene Psychoanalyse, sich auf eine andere Art und Weise mit ihrer Psyche und ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen."
Mit den Romanen und Erzählungen ihrer zweiten experimentellen Schaffensphase erlangte Kavan zunächst positive Aufmerksamkeit bei der Kritik. Seit den 1950er-Jahren geriet sie aber zunehmend in Vergessenheit.
Erst mit ihrem letzten Roman "Eis" hatte sie 1967 wieder Erfolg. Leider stellte sich dieser Umschwung erst ein Jahr vor Kavans Tod im Jahr 1968 ein. Zu Beginn ihres letzten Romans "Eis" kämpft sich ein namenloser männlicher Ich-Erzähler mit dem Auto durch eine vereiste Landschaft. Er ist auf der Suche nach einer jungen Frau, zu der er früher in enger Beziehung stand. Die junge Frau hat im Roman keinen Namen und wird nur als "das Mädchen" bezeichnet.
Mitten in der vereisten Landschaft taucht plötzlich das Mädchen auf, stellt sich im Nachhinein aber als reine Fantasie des Erzählers heraus. Mit der Zeit wird außerdem klar, dass die extremen klimatischen Bedingungen im Roman die Folge eines nicht näher bestimmten apokalyptischen Geschehens sind, das die ganze Welt erfasst hat.

In eine arrangierte Ehe gezwungen

Gerade dieser dystopische und apokalyptische Zug macht "Eis" angesichts der drohenden, weltumspannenden Klimakrise erstaunlich aktuell. Aber nicht nur die äußere Welt ist bedroht, sondern auch das Mädchen. In den unvermittelt strömenden Visionen des männlichen Ich-Erzählers kommen nach und nach die sadistischen Züge seines Verhältnisses zu ihr ans Licht.
In Anna Kavans Romanen stehen oft weibliche Figuren im Zentrum, die von gewalttätigen Männern verfolgt werden und in ihrer Kindheit unter einer übermächtigen Mutter gelitten haben. Darin spiegelt sich zum Teil auch ihr eigener Lebensweg wider.
Als junge Frau wurde sie genau zu dem Zeitpunkt, da sie ein Studium in Oxford beginnen wollte, von ihrer Mutter in eine arrangierte Ehe gezwungen. Ihr erster Ehemann stellte sich schnell als brutaler Alkoholiker heraus. Bei Kavans literarischer Verarbeitung dieser Thematik in "Eis" zeigen sich auch Anknüpfungspunkte zu heute aktuellen Debatten.
"In der New York Times wurde der Roman im Kontext der MeToo-Bewegung als sehr interessant angesehen", stellt Hannah van Hove fest.

Feministische Sensibilität, aber kein Teil der Bewegung

Die MeToo-Debatte, die Klimakrise, fließende Grenzen zwischen den Geschlechtern – Anna Kavan, Brigid Brophy und Ann Quin waren ihrer Zeit voraus. Diese Erfahrung macht auch Jennifer Hodgson, wenn sie etwa Brigid Brophys Roman "In Transit" bei Lesungen vorstellt: "Die Leute sind immer sehr überrascht, wie aktuell Brophy ist: Diese Auseinandersetzung mit Identität, Gender, Sexualität und Sprache und wie Brophy diese fixen Kategorien aufgebrochen hat, und das vor 50 Jahren!"
Brigid Brophy war zwar im Hinblick auf Genderidentitäten ihrer Zeit weit voraus, weigerte sich aber andererseits, sich in konkrete politische Bewegungen des Feminismus einspannen zu lassen.
"All das legt nahe, dass sie eine feministische Sensibilität besaß, aber es passte zu ihrem Charakter, sich nicht der feministischen Bewegung anzuschließen", erläutert Carole Sweeney.
So wenig Brophy sich politisch einordnen lassen wollte, so wenig waren alle drei Autorinnen in literarische Gruppenzusammenhänge integriert.

Erst in den Nullerjahren wiederentdeckt

Hannah van Hove stellt fest: "In der Literaturwissenschaft gibt es die Tendenz, diese Autorinnen und Autoren in einer Gruppe zusammenzufassen. Alle schrieben in den 1960er-Jahren und arbeiteten an der Erweiterung der Romanform. Sie haben also sehr viel gemeinsam, aber sie bildeten nie eine Gruppe."
Dieser fehlende Gruppenzusammenhang mag auch ein Grund dafür sein, dass diese experimentellen britischen Autorinnen der 1960er-Jahre in Vergessenheit gerieten und erst seit Mitte der 2000er-Jahre wiederentdeckt werden.
"Ich will nicht sagen, dass heutige experimentelle Autorinnen wie Deborah Levy oder Eimear McBride oder sogar Rachel Cusk diese Schriftstellerinnen gelesen haben oder von ihnen beeinflusst wurden. Aber ich sehe doch einen Zusammenhang zwischen ihnen und diesen vernachlässigten Autorinnen der 60er-Jahre", sagt Carole Sweeney abschließend.
(uck)

Es sprachen: Ole Lagerpusch, Simone Kabst und Lisa Hrdina
Regie: Roman Neumann
Ton: Martin Eichberg
Redaktion: Dorothea Westphal

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