Angst macht böse

18.04.2011
Der Neurowissenschaftler Joachim Bauer erklärt die Gewalttätigkeit von Menschen als Reaktion auf Bedrohungen durch die Außenwelt. Dem Hochkapitalismus und seiner Kultur der Ausgrenzung sagt er nach, dass er Gewaltausbrüche einzelner Individuen fördere.
Der Mensch ist nicht von Natur aus aggressiv. Nicht im Kampf gegeneinander, sondern im alltäglichen Miteinander erreichten unsere Vorfahren ihre Ziele. Die Aggression gegen Mitmenschen war und ist die Ausnahme.

Sorgfältig und ohne Polemik legt der Psychologe und Neurowissenschaftler Joachim Bauer dar, warum es den von Sigmund Freud propagierten Aggressionstrieb in der Natur des Menschen nicht gibt. Aggression ist kein Instinkt, den uns die Evolution durch Selektion hinterlassen hat und der immer wieder aus uns herausbricht. Aggression und Gewalt sind vielmehr ebenso wie Angst und Flucht Reaktionen auf Bedrohungen durch die Außenwelt.

Jede Verletzung oder Demütigung hinterlässt in uns ihre Spuren, besonders dann wenn sie unsere zwischenmenschlichen Beziehungen bedroht. Und wenn dann irgendwann eine Schmerzgrenze überschritten wird, reagieren viele Menschen mit Aggression gegen Sachen oder Mitmenschen. Dabei richtet sich diese Reaktion keineswegs immer gegen die Ursache des Schmerzes, sondern kann zeitversetzt Unbeteiligte treffen und eine Spirale der Gewalt in Gang setzen. So kommt es immer wieder zu Szenen unerklärlicher Brutalität.

Im zweiten Teil seines Buches erweitert Joachim Bauer diese Erkenntnisse aus der Neurowissenschaft zu einer gesellschaftlichen Theorie. Darin bezeichnet er unsere "zivilisierte" Welt als Ursache zunehmender Aggressionsausbrüche. Er spricht sogar von einem beginnenden "Zeitalter der Gewalt".

Nicht die Biologie - wie Sigmund Freud, Konrad Lorenz oder Richard Dawkins - sieht er als Quelle der Gewalt, sondern die Kultur. Das Anlegen von Vorräten, der Streit um begrenzte Ressourcen, die Verteidigung von Besitz und die Entstehung großer menschlicher Ansammlungen erforderten Moralsysteme, die das Zusammenleben erleichterten, aber auch die Abgrenzung nach außen förderten.

Vor allem den "Raubtierkapitalismus" sieht Joachim Bauer als Ursache von zunehmender Gewalt im Kleinen wie im Großen. Das Streben nach Gewinn führt zur sozialen Spaltung und zur schmerzhaft erlebten Ausgrenzung aus der Gesellschaft. Auch hier wird eine Schmerzgrenze überschritten, was zur Entwicklung von Gewalt führt.

Während Joachim Bauer die Psychologie der Aggression überzeugend darlegt, bleibt sein Ausflug in die Politik bruchstückhaft. Er stellt wichtige Fragen und fordert gegenseitigen Respekt und Gerechtigkeit als Grundlage des Zusammenlebens. Wie das politisch umgesetzt werden kann, verrät sein Modell von der Schmerzgrenze aber nicht.

Das Buch "Schmerzgrenze" besticht durch seine klare Sprache und seinen wohlüberlegten Aufbau. Immer wieder bietet es Anknüpfungspunkte zu alltäglichen Situationen. Nicht ohne Fachwörter, aber mit leicht verständlichen Erklärungen navigiert es durch aktuelle Diskussionen in Psychologie und Neurowissenschaften.

"Schmerzgrenze" ist dennoch keine leichte Lektüre. Joachim Bauer zwingt seine Leser zum Mitdenken. 50 Seiten Fußnoten und 40 Seiten Register bieten viele Möglichkeiten, die Angaben zu überprüfen und sich aus Originalquellen weiter zu informieren.

Besprochen von Michael Lange

Joachim Bauer: Schmerzgrenze – Vom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt
Karl Blessing-Verlag, München 2011
288 Seiten, 18,95 Euro