Angelockt vom Blutgeruch

17.06.2008
Ein ausgehungerter Wolf entdeckt in einem schwedischen Dorf die Kadaver von 19 Menschen. Das ist die Einstiegsszene im neuen Roman von Henning Mankell "Der Chinese". Doch dabei bleibt es nicht: Der Autor konfrontiert den Leser mit einer Vielzahl menschlicher Tragödien.
Max Horkheimer und Theodor W. Adorno schreiben in der "Dialektik der Aufklärung" unter "Mensch und Tier":

"Die Menschen sind einander und der Natur so radikal entfremdet, dass sie nur noch wissen, wozu sie sich brauchen und was sie sich antun. Jeder ist ein Faktor, das Subjekt oder Objekt irgendeiner Praxis, etwas mit dem man rechnet oder nicht mehr rechnen muß."

Der Gedanke könnte als sinnstiftendes Motto über Henning Mankells neuem Roman "Der Chinese" stehen, der vom Zsolnay Verlag als ein "internationaler Thriller" angekündigt wird. Damit scheint er Bücher von Mankell wie "Mittsommermord" (2000), "Die Rückkehr des Tanzlehrers" (2002) oder "Die italienischen Schuhe" (2006) noch zu übertreffen.

Eröffnet wird die Handlung mit einer Episode, die in ihrer lakonischen Darstellung beunruhigt. Auf lautlosen Pfoten sucht im Januar 2006 ein ausgehungerter Wolf im schwedischen Hälsingland nach Nahrung. Von Blutgeruch angelockt, findet er in einem Dorf einen frischen Kadaver. Er weiß, dass er in Menschennähe vorsichtig sein muss, doch es steigt kein Rauch aus den Schornsteinen, kein Hund bellt und niemand macht ihm seine Beute streitig.

Der als Raubtier gefürchtete Wolf führt uns zum Ort des Grauens. Im Dorf Hesjövallen sind neunzehn Menschen brutal hingerichtet worden und die Polizei fühlt sich außerstande, die Ermittlungen zu organisieren.

Der schwedische Bestseller-Autor ist dafür bekannt, dass er seinen Kommissar Wallander mit unerträglichen Grausamkeiten konfrontiert. Doch ein solches Blutbad passt nicht in die schwedische Landschaft. Die Unfassbarkeit des Vergehens an der menschlichen Natur nimmt biblische Dimensionen an. Mankell spricht von chinesischen Schachteln, um sein Erzählprinzip zu erläutern:

"Man fängt mit der größten an…Dann öffnen sie die nächste und plötzlich tut sich etwas ganz anderes auf."

In einer Schachtel verbirgt sich die Familiengeschichte der Richterin Birgitta Roslin. Als sie von der Katastrophe erfährt, stellt sie fest, dass in dem Dorf nicht nur ihre Mutter gelebt hat, sondern zehn Tote "Andrén" heißen. Es ist der Name der Pflegeeltern, bei denen Roslins Mutter aufgewachsen ist. Getrieben von Neugier und Angst begibt sie sich auf eine detektivische Odyssee, die von Schweden über China nach Amerika und Afrika führt und wie in Homers Epos zur Irrfahrt wird.

Dabei werden 150 Jahre in der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung der Kontinente erzählt. Auf der Heimfahrt weiß Roslin, dass sich ihr Leben grundlegend verändert hat.

Mankell konfrontiert mit einer Vielzahl menschlicher Tragödien, die exemplarische Bedeutung haben. In einer seiner Erzähl-Schachteln steckt die Geschichte der chinesischen Brüder San und Guo Si, die Mitte des 19. Jahrhunderts als Sklaven am Bau der Eisenbahnstrecke in Nordamerika ums Überleben kämpfen.

In einer anderen die der schwedischen Missionare Elgstrand und Loding, die ihre frohe Botschaft vom "wahren Gott" unter die Menschen bringen und das in sie gesetzte Vertrauen brutal missbrauchen. Auch sie reduzieren im Namen des Fortschritts und der Barmherzigkeit ihre Mitmenschen zum Objekt einer Praxis. Sie spielen Gott und erheben sich zum Richter über Leben und Tod.

Indem Mankell nach der Humanität irdischer Zustände fragt, kann sein Roman als moderne Parabel verstanden werden, die an Bertolt Brechts "Der gute Mensch von Sezuan" erinnert. Im Krieg entstanden, zeigt Brecht, dass Armut und Ausbeutung daran schuld sind, dass der Mensch nicht gut sein kann. Mankell hat sich zu einem Epilog entschlossen, in dem berichtet wird, dass nach den vielen namenlosen Toten auch der Wolf zur Strecke gebracht wurde.

Rezensiert von Carola Wiemers

Henning Mankell: Der Chinese
Aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt
Roman, Paul Zsolnay Verlag 2008
605 Seiten, 24,90 Euro